Wie immer, gab es in Oberhausen am Reformationstag 2016 einen zentralen Gottesdienst. Die Predigt hielt eine Oberkirchenrätin, die aus Düsseldorf gekommen war. Sie begann ihre Predigt folgendermaßen: Sie sei zu einem vorbereitenden Gespräch über Fragen des Reformationsjubiläums nach Amerika geflogen. In New York habe sie der Zöllner gefragt, was ihr Geschäft in Amerika sei. Sie habe etwas gesagt in Richtung Reformation und Martin Luther. Darauf der Zollbeamte: „Dann sind Sie hier falsch. Fliegen Sie weiter nach Atlanta, da ist das Grab von Martin Luther King.“
Mit dem Martin Luther, mit dem wir es im Jahr 2017 zu tun haben, konnte der Mann offensichtlich nichts anfangen. Und meine Vermutung ist, dass viele mit Verlegenheit oder Unverständnis reagieren würden, wenn man sie bei uns zu Luther und der Reformation befragen würde. Was ist davon in unserer Gesellschaft gegenwärtig? Oder richtiger gefragt: Was weiß ich davon? Was berührt mich? Was freut mich? Was macht mich dankbar?
Die Menschen des Mittelalters gingen zur Messe. Und sie nahmen an einem Ritual teil, das ihnen – weil es ihnen so gesagt wurde und weil sie es so in ihr Leben aufgenommen hatten – wichtig war. Was da vor sich ging, erlebten sie vorwiegend passiv. Sie verstanden kein Latein. Sie waren beteiligt – und doch ausgeschlossen. Sie waren zwar ein bestätigender Teil der Institution Kirche, aber diese Institution war in sich fest gefügt und nach außen abgeschlossen durch Glaubenssätze, Hierarchien und Riten. Für die Gläubigen, die durch die Zugehörigkeit zu dieser Institution ihr ewiges Heil und den Frieden mit Gott erhofften, war Kirche Schutz und Bedrohung zugleich, sie weckte Hoffnung auf Gottes Gnade und Angst vor Hölle und Fegefeuer. Gleichzeitig.
Als Martin Luther seinen Schlüssel für seinen – und unseren – Glauben gefunden hat, sehr verkürzt gesagt: Ansehen vor Gott durch Gnade allein und nicht durch Werke, nimmt er die Angst und setzt an ihre Stelle Glaubensfreude und Glaubensfreiheit. Damit zugleich Lebensfreude und Lebensfreiheit. Gott ist fern und uns in Christus nah gekommen. Gottesferne und Gottesnähe. Gleichzeitig.
„Kirche“ bekommt damit eine andere Bedeutung. Sie ist sicher noch eine Institution, denn wir sind Teile der Rheinischen Landeskirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland, aber wir können auch sagen: Ich gehe jeden zweiten Sonntag in die Kirche. Oder: Was machst du nach der Kirche. Oder: Kurz vor elf war die Kirche aus.
Das ist offenbar etwas, was wir von Luther haben: Für uns ist „Kirche“ eine Handlung, ein Ereignis, eine Beteiligung. Die Kirche sind wir, und die Institution sollte – das wäre der ideale Zustand – uns glaubens- und lebensdienlich sein.
Für mich ist das der wichtigste, vor 500 Jahren gewagte revolutionäre Schritt: Luther hat uns, die Gemeinde, zum Ereignisort des Evangeliums gemacht. Er hat das Evangelium von der Verwaltungs- und Interpretationshoheit der Institution gelöst und es uns gegeben. Wir alle sind Priester, ohne Studium und ohne Weihe. Wir alle dürfen dem Evangelium unseren Sinn geben. Zugleich: Wie riskant ist das für die Botschaft selbst? Führt das nicht zu Individualismus und Beliebigkeit?
Viele Menschen gehen nicht zur „Kirche“. Sie sind ihr nur locker verbunden. Die Botschaft lebt aber nur durch den Dialog. Und den gibt uns unverzichtbar der Gottesdienst als Gemeinschaft derer, die zusammen über eine Auslegung des Evangeliums nachdenken wollen. Die Predigt ist nicht Gottes Wort, aber sie arbeitet sich daran ab, mit unseren Worten und bezogen auf unser gemeinsames Leben. Die Freude, Ereignisort des Evangeliums zu sein, ist auch zugleich Mühe, zu verstehen, was uns die Bibel sagen will. Der Prediger hilft uns dabei. Das ist sein professioneller Auftrag.
Der amerikanische Zollbeamte am Flughafen in New York wusste offenbar nichts von dem Jubiläum, das wir mit der protestantischen Welt 2017 feiern. Viele in unserer Gesellschaft (vielleicht auch viele in der Gemeinde?) stehen an seiner Seite. Sind Luther und die Reformation aktuell? Die mehr als 100 Veranstaltungen im Reformations-Jubiläums-Jahr allein in Essen sollen das offensichtlich belegen. Und Werbung und Publikationen helfen dabei mit, denn das Jubiläumsjahr weckt auch geschäftliche Interessen.
Zurück zur wirklichen Bedeutung des reformatorischen Jubiläums: Im besten Sinne reformatorisch ist das Bewusstsein, dass die Kirche nie „fertig“, sondern immer nur ein historischer Zustand ist. Wir wissen, dass unsere Kirche immer reformiert werden will. Das ist so, weil das Evangelium ein Lebensquell ist, der die Nähe der Menschen sucht (und braucht?), wo und wie immer sie leben.
Hans Erlinger