Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. (Lukas 2,1.)
In diesem Jahr ist mir besonders bewusst, dass wir dieselbe Weihnachtsgeschichte jedes Jahr anders hören – dass wir sie jedes Jahr neu hören. Dass wir selbst Veränderte sind. Jeder von uns schaut auf ein Jahr mit persönlichen Erfahrungen, die uns verändern: Wir mussten vielleicht von einem Menschen Abschied nehmen. Ein Kind wurde geboren. Der Kindergarten begann. Die eine hat die Schule abgeschlossen und studiert jetzt – der andere hat sich beruflich verändert.
Und wir schauen auf Erfahrungen in unserer Stadt und in unserem Land, die uns verändern. Nach der Notversorgung von Tausenden von Flüchtlingen haben wir uns im zurückliegenden Jahr um die große Aufgabe der Integration bemüht. Als Kirche und Diakonie haben wir nicht nur zugeschaut, sondern waren mittendrin. Ich denke dabei besonders an die Kirchengemeinden und deren Engagement an den Runden Tischen mit vielen Ehrenamtlichen.
Inzwischen hat sich die Grundstimmung verändert. Auch in Essen ist nach den Rekordzahlen von 2015 die Zahl der neu zugewiesenen Flüchtlinge deutlich zurückgegangen. Angekommen scheint mir die Erkenntnis, dass wir in Europa nicht auf einer abgeschotteten Wohlstandsinsel leben, sondern uns das Elend der Welt auch hier mitten in Essen direkt betrifft. Salonfähig ist dabei der Aufruf zu Hass und Missachtung des Nächsten geworden – ich gebe zu, das beunruhigt mich. Da liegt ein hilfloser Mann in Essen vor einem Geldautomaten auf dem Boden – und die Videoaufnahmen zeigten uns, wie andere Menschen den offensichtlich Hilflosen ignorieren; über ihn hinwegsteigen. Noch offensiv gewalttätiger der Angriff in einer Berliner U-Bahn-Station: die heimtückische Attacke, bei der eine junge Frau hinterrücks die Treppe hinuntergetreten wurde. Terror und Gewalt in Berlin, Brüssel, Nizza… Wir hören in diesem Jahr anders als sonst den Ruf der Engel: Frieden auf Erden…
Natürlich blicken wir auch auf viele schöne Erlebnisse: das kann vielleicht eine gelungene Urlaubsreise sein, eine neu begonnene Freundschaft – oder die Helfergeschichten aus dem zurückliegenden Essener Stadtleben, die die Essener Zeitungen in diesen Tagen beschreiben.
Ich selbst habe dabei das Gefühl: nie hat es mir so gut getan wie in diesem Jahr, dass das Evangelium eine zuverlässige Konstante ist. Da sind sie alle wieder – die handelnden Personen: Maria, Josef, die Hirten…
Die Hirten standen damals ganz am Rande der Gesellschaft. In der Skala der möglichen Arbeitsplätze ganz unten. Warum eigentlich machen sie sich auf den Weg? Erwachsene Männer, die Engel singen hören? Wenn jemand im Jobcenter oder der Agentur für Arbeit sagen würde, er hätte den Arbeitsplatz verlassen, denn Engel hätten ihm Heil verkündet, würde wahrscheinlich über die Finanzierung einer Therapie nachgedacht.
Alle Gestalten der Weihnachtsgeschichte teilen aber eine wunderbare Eigenschaft: sie lassen sich ein auf Überraschendes in ihrem Leben. Sie ignorieren nicht die zufällige Begegnung, sondern wagen selbst den anderen Blick.
Es könnte doch sein, dass Gott etwas mit mir vorhat, was ich selbst mir gar nicht vorstellen kann. Ja – ich bin tatsächlich selbst gemeint. Bei mir kann sich etwas ändern. Lasst uns heute Abend ruhig den Blick zu uns selbst wagen. Ich glaube, dass viele Menschen zurzeit das Gefühl haben, nicht gesehen und nicht gehört zu werden. Die eigene Stimme, vielleicht sogar das eigene Leben zähle nichts.
Den Hirten damals ging es vermutlich nicht viel anders. Und doch haben sie sich aufgemacht zur Krippe und haben gehofft, dass alles anders sein kann. So wie wir das heute Abend tun: Heute Abend sind wir hier eine friedliche Gemeinschaft von Menschen, die miteinander singen und beten. Ja gut, vielleicht ist es in mancher Kirchbank etwas eng und der Nachbar nicht ganz so angenehm. Aber über unsere kleinen Konflikte hinweg sind wir eine Gemeinschaft. Über alle Konflikte hinweg feiern wir miteinander. Reihen uns ein in das Lob Gottes, das zwei Milliarden Christinnen und Christen in aller Welt anstimmen. In der Heiligen Nacht ist in Gottes Haus jeder willkommen.
Das ist mir wichtig am Heiligen Abend: wie immer wir heute gestimmt sind, was immer uns bewegt, freut, rührt oder auch belastet und traurig macht – genauso wie wir sind, können wir vor der Krippe stehen. Und sogar auch mit der Hoffnung, selbst anders sein zu können: Gott erkennt, was in uns liegt an Sehnsüchten und Möglichkeiten.
Mich ermutigt dabei der Gedanke, dass Gott uns die Kraft zur Bewältigung von Krisen nicht im Voraus gibt. Aber wir dürfen darauf vertrauen, dass er uns mitten in der Krise die Kraft gibt, damit umzugehen, wenn wir ihn darum bitten.
Die Weihnachtsgeschichte ist für mich besonders nach den Ereignissen der letzten Wochen und Tage eine Hoffnungsgeschichte. Gott wird Mensch. Gott kommt. Nicht als Kriegsfürst, nicht als Milliardär. Nicht als Präsident. Er kommt als Kind, arm, schutzlos, und bedürftig. Diesem Gott kann ich mich anvertrauen. Das Kind in der Krippe, die Verletzlichkeit des Lebens, stellt einen Widerspruch dar gegen das Toben der Gewalt, gegen den Terror und die Macht der Gewehre und der Bomben. Als Christinnen und Christen haben wir in diesen Tagen die Hoffnung wachzuhalten, dass das möglich ist auf unserem Planten Erde. Mach´s wie Gott, werde Mensch – lautet ein bekannter Slogan aus den letzten Jahren. Eine gute Idee: werden wir Mensch. Nehmen wir andere an, auch wenn sie nicht so sind, wie wir sie uns wünschen. Wagen wir zu lieben. Nicht vorbeizugehen an denen, die am Boden liegen.
Ich wünsche uns allen, dass wir einander annehmen können an diesem Heiligen Abend mit unseren Macken und Fehlern. Ob das Essen anbrennt oder das Geschenk falsch ausgesucht ist – das ist nicht wichtig. Wir dürfen uns von Gott gehalten wissen – das zählt. Diese Gewissheit will Weihnachten uns schenken.
Lassen wir uns selbst durch diese Weihnachtsbotschaft verwandeln! Indem wir die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit auch dann im Herzen bewahren, wenn um uns herum alles dagegen spricht. Indem wir die Menschen, die in Not sind, wahrnehmen, für sie beten und mit unserer Zeit oder mit unserem Geld zur Überwindung ihrer Not beitragen. Indem wir uns öffentlich dafür einsetzen, dass die Ursachen ihrer Not bekämpft werden.
„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“ – die Weihnachtsgeschichte erzählt nicht von einer schlagartigen weltpolitischen Veränderung. Sie erzählt von der Geburt in Bethlehem. Sie erzählt von den Hirten, die zur Krippe gekommen waren, und am Ende wieder umkehren, einfach wieder an ihre Arbeit gehen, Schafe hüten, in kalten Nächten frieren, mit den harten Seiten des Lebens kämpfen.
Doch etwas hat sich geändert, sie gehen verändert zurück. Sie haben den Frieden, von dem die Engel gesungen haben, nie mehr verloren, sie haben ihn mitgenommen. Sie haben den Heiland gesehen. Der Himmel hat sich ihnen geöffnet. Und sie haben die Welt wieder lieben gelernt, weil sie nun wussten: Gott wurde Mensch – er wohnt mitten in dieser Welt.
So kehren wir nach dem Weihnachtsgottesdienst in unsere Häuser zurück. Mit der Geschichte im Herzen, die da passiert ist und die uns so sehr trifft in unserer Sehnsucht nach Frieden, in unserer Sehnsucht nach Liebe, in unserer Sehnsucht nach Heil, dass wir jedes Jahr wieder verwandelt werden. Von den alten Liedern, von den Lichtern an den Tannenbäumen, von den Worten der Verkündigung, die von einer neuen Wirklichkeit erzählen.
Auf Weihnachten zugehen heißt in diesen Tagen: Wir gewöhnen uns nicht an das, was ist. Sondern wir machen uns auf und erheben kräftig die Stimme für den Frieden, gegen alle, die unbeirrt auf Krieg versessen sind. Der Friedensbringer will uns als seine Friedensboten, jeden und jede einzelne, und uns gemeinsam, hier in Essen, in Berlin, in London, in Paris, in Istanbul, in Bethlehem, in Bagdad, in Gaza, in Tel Aviv – überall dort braucht es Menschen, die Nein sagen, von Weihnachten her. Wir alle sind gefordert, unsere vielen kleinen Stimmen zum lauten Chor des Friedens zusammenzutun. „O du fröhliche, gnadenbringende Weihnachtszeit“ zu singen, aus vollen Halse, aus vollem Herzen, mit vollem Ernst und tiefer Fröhlichkeit. Nicht nur nach innen zu singen, sondern in die Welt hinein. Denn nicht umsonst kam Gott nicht mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt, sondern in unsere Welt, in die Kälte, in die Nacht des Herodes und Augustus. Er kam in eine bedrohliche politische Situation und war dort der Friedenbringer.
Liebe Gemeinde, es ist schön und gut, dass wir weihnachtlichen Seelen- und Familienfrieden feiern. Aber es muss uns allen auch am Frieden der Welt gelegen sein. Der Friedensbringer ist gekommen.
Nun sei auch du ein Friedenstifter, der du das Kind in der Krippe liegen siehst, für dich geboren. Auf diesem Kind liegt der Segen Gottes. Deshalb fröhliche, gnadenbringende Weihnachtszeit für unser Innerstes, für unsere kleine Welt und für die große weite Welt.
Fröhliche, gnadenbringende Weihnachtszeit!
Marion Greve
Hallo, Marion, schön, dass uns im fernen Chile Deine Weihnachtspredigt erreicht, die auch uns gut tut.. Vielen Dank. Dir auch eine fröhliche gnadenbringende Weihnachtszeit. Hier hat es heute um circa 13 Uhr hiesiger Zeit, ein schweres Erdbeben 7,6 gegeben im Süden Chiles mit schweren Schäden, aber Gott sei Dank keinen Personenschäden. Tzunami blieb Gott sei Dank aus und die Menschen können wieder zurück in ihre Häuser.
Liebe Grüße
Susanne
Schön, liebe Marion, dass wir im fernen Chile Deine Predigt lesen können . Martin hat uns gesagt, wo wir sie finden .Vielen Dank. Dir auch eine fröhliche, gnadenbringende Weihnachtszeit.