Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. (3. Mose 19,33)
Ein Bibelwort taucht in kirchlichen Stellungnahmen zum Umgang mit Flüchtlingen immer wieder auf. Es findet sich bei 3. Mose 19, Verse 33-34: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.“ Für Essen verweise ich beispielhaft auf die Stellungnahme des Kirchenkreises Essen und des Diakoniewerks Essen „Flüchtlinge willkommen heißen, begleiten, beteiligen“ von 2014 oder auf das „Gemeinsame Wort der Essener Kirchen zum Umgang mit Flüchtlingen“ aus dem Februar 2016.
Wenn es in der Bibel um das gültige Recht und den sozialen Umgang mit einander geht, wird wiederholt eingeschärft: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken.“ Das versteht sich damals wie heute eben nicht von selbst. Bei diesen Fremden handelte es sich um Menschen, die aus einem anderen Stamm oder aus einem anderen Land gekommen und oft von dort geflohen waren. Ihr Verhältnis zu denen, die als Einheimische leben, steht zur Debatte. Es soll geklärt werden, wie sie ins gefährdete soziale Gefüge passen. Im Mittelpunkt steht dabei, dass sie Menschen sind, die eines besonderen Schutzes bedürfen. Denn in der Regel sind sie arm und werden zu den wirtschaftlich Schwachen gezählt, die wie Witwen und Waisen Anspruch auf Hilfe haben. Ihr Schutz wird in rechtlichen Anweisungen konkretisiert.
Regelmäßig und nur leicht variiert wird die Begründung für die entsprechenden Rechtsnormen mitgeliefert. Da heißt es: „…denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen“ (2. Mose 22,20), „…denn ihr wisst um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid“ (2. Mose 23,9) oder wie zitiert: Der Fremdling „soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland“.
Die Solidarität wird begründet mit der Erinnerung an das eigene Leben unter vergleichbaren Umständen. Kein Wunder, dass bei vielen Diskussionen in unserem Land heute ebenfalls persönliche Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, besonders am Ende des Zweiten Weltkriegs, eine große Rolle spielen. Das gilt gerade für Menschen, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit engagieren. Erinnerung wird hier nicht allein auf die eigene Lebensgeschichte bezogen, sondern generationenübergreifend gedacht. Auch wenn ich nicht selber in Ägypten war, bin ich doch Teil der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Damit ist die Erfahrung in Ägypten auch ein Teil meiner Geschichte. Es geht um eine kollektive Erinnerung, und die führt zu einer gemeinsamen Identität. Erfahrungen aus der deutschen Geschichte erzählen Ähnliches. Als etwa 1949 das Recht auf Asyl in das Grundgesetz aufgenommen wurde, waren nicht wenige von denen, die das Grundgesetz formulierten, in der NS-Zeit selbst Exilanten und Asylsuchende in anderen Ländern.
Wenn man genau hinschaut, hat diese Erinnerung ein doppeltes Gesicht. Einerseits fanden die Vorfahren Israels, die in Notzeiten ihr Land verlassen mussten, in Ägypten Zuflucht. Sie wurden aufgenommen und schafften es zu überleben. Andererseits entwickelte sich im Zufluchtsland dann eine Situation, in der sie versklavt und ausgebeutet wurden. Das führte später zum Auszug aus der Sklaverei Ägyptens. Dieser Teil der Geschichte soll sich in Israel nicht wiederholen. Vielmehr gilt: Durchbrecht den Teufelskreis! Geht anders mit Fremdlingen um als ihr das im Schlechten erlebt habt!
Wie zentral die Betonung der Würde jedes Menschen ist, zeigen die Zehn Gebote. Sie beginnen mit der Freiheit, zu der Gott befreit: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“ (2. Mose 20,2). Gott, der alles Leben geschaffen hat, will Freiheit für jeden Menschen. Das gibt die Basis vor, auf der unser Handeln beruht. Die Aufgabe der Gesellschaft ist es, den Rahmen dafür zu organisieren.
Geschichte ohne Migration gibt es nicht. Alles andere ist reines Wunschdenken. So ist auch die Bibel voll von Migrationsgeschichten. Ob das immer Flucht genannt werden kann oder muss, lasse ich offen. Die Gründe für Migration oder Flucht sind vielfältig. Menschen verlassen ihre Heimat, um dem Hunger zu entfliehen, so Abraham und Sara, Jakob und seine Familie, die Familie von Noomi, die spätere Schwiegermutter von Ruth. Menschen fliehen vor politischer oder strafrechtlicher Verfolgung, so Mose als er einen ägyptischen Aufseher erschlug. War er da Flüchtling, Terrorist, Freiheitskämpfer? Die Sklavin Hagar flieht vor ihrer Herrin, für die sie Leihmutter werden musste, und das einzige was ihr bleibt ist: Weg von hier!
Wie kompliziert die Situation auch damals war, lässt sich daran erkennen, dass in den Texten nicht nur von „Fremdlingen“ die Rede ist. Als „Ausländer“ etwa galt in Israel jemand, der zu einem fremden Volk gehört, sich nur für eine gewisse Zeit (etwa als Händler) in Israel aufhält oder, wenn er im Land bleibt, an der angestammten Religions- oder Volkszugehörigkeit festhält. Anders ist das beim „Fremdling“. Der ist in Israel wohnhaft geworden, untersteht der gültigen Gesetzgebung und genießt als ein Schutzbürger gewisse Rechte, allerdings ohne ein Vollbürger zu sein. So darf er kein Land besitzen und steht in der Regel im Dienst eines Israeliten, der sein Herr und Beschützer ist. Er kann aber durch Beschneidung in die Gemeinde Israels aufgenommen werden.
Wie verhält sich das Recht des Flüchtlings zu den Rechten anderer? „Wenn du dein Land aberntest, sollst du nicht alles bis an die Ecken deines Feldes abschneiden, auch nicht Nachlese halten. Auch sollst du in deinem Weinberg nicht Nachlese halten noch die abgefallenen Beeren auflesen, sondern dem Armen und Fremdling sollst du es lassen; ich bin der HERR, euer Gott“ (3. Mose 19,9-10). Diese damalige Form der Sozialhilfe ist eine der vielen Vorschriften, die sich allein im Kapitel 19 rund um den eingangs zitierten Bibelvers finden. Es geht bei den Vorschriften um die Beziehung zu Gott. Aber genauso gibt es Regeln für die Beziehungen der Generationen untereinander, für den Umgang mit Sexualität, Essen und der Arbeit, für ein gerechtes Verhalten vor Gericht oder auf dem Markt oder einen anständigen Umgang im Alltag zum Beispiel mit Menschen mit Behin-derungen. Die Solidarität mit dem Fremdling ist also wichtig. Sie ist aber nur EIN Baustein in einem zwischenmenschlichen Miteinander, das sich an den Leitlinien orientiert, die Gott als Hilfe zum Leben vorgibt. Wie ein roter Faden gehört zu diesen allgemeinen Leitlinien der Gedanke, Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen, die besonderen Schutzes bedürfen.
In diesem 19. Kapitel des 3. Buch Mose taucht in Vers 18 eine Formulierung auf, die im Laufe der Zeit zur Summe aller sozialen Gebote wurde: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR.“ An dieser Stelle ist mit dem „Nächsten“ noch nicht jeder Mitmensch gemeint. Jesus wird später selbst die Feinde ausdrücklich mit in die Liebe zum Nächsten einbeziehen. Hier ist mit dem Nächsten der gemeint, der zum Volk Israel gehört.
Zwei Missverständnissen möchte ich sicherheitshalber vorbeugen: Zum einen geht es bei diesem „lieben“ nicht um Gefühle, sondern um eine konkrete rechtliche und soziale Praxis. Und zum anderen ist das Maß der Nächstenliebe die Liebe, die jeder von Natur aus für sich selbst hat. Selbstliebe wird einfach als selbstverständlich vorausgesetzt und nicht als etwas angesehen, was gefährlich wäre und bekämpft werden müsste.
Erstaunlich weitsichtig finde ich den Ausblick auf mögliche Folgen des eigenen Handelns, der ebenfalls mitgeliefert wird. Wenn der andere nicht als mit gleichem Lebensrecht ausgestattet anerkannt wird, dann fällt das früher oder später auf den einzelnen und auf die Gesellschaft zurück. Die Voraussage wird gemacht: Es gibt dann keinen sozialen Frieden in der Gesellschaft und keinen inneren Frieden für den Einzelnen. Wird dagegen die richtige Beziehung zu Gott und zum Nächsten Wirklichkeit, tut das nicht nur Gott gut, sondern vor allem den Betroffenen, ja der ganzen Gesellschaft. Es geht um das „Wohl“ der Angesprochenen, dass es sie „wohlgefällig“ (19,5) macht, wie es heißt.
Wie sehr die sozialen Regeln des Zusammenlebens in den Grundüberzeugungen der Mitglieder einer Gesellschaft wurzeln, macht schließlich der Blick auf den großen Zusammenhang deutlich. Überschrieben ist das ganze Kapitel 19 in der Luther-Bibel nämlich mit „Von der Heiligung des täglichen Lebens“. Es beginnt: „Und der HERR redete mit Mose und sprach: Rede mit der ganzen Gemeinde der Israeliten und sprich zu ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott“ (19,1-2). Das ist sozusagen das Vorzeichen vor allem, was folgt. Wir sind in die Heiligkeit Gottes hineingenommen. Das strahlt in alle Lebensbezüge und alle Handlungsbereiche aus. Das Leben kommt aus Gottes Hand, ist darin geborgen und wird erhalten. Es ist gedacht als ein Leben in Freiheit. Gott will uns im Guten in seinen Bann ziehen. In diese Zusage für uns ist der Auftrag eingeschlossen, in seinem Sinn unser Leben zu gestalten, damit es seine Erfüllung findet.
Andreas Müller
Hy liebes himmelsrauschen team
Ihren bereich interreligiöse verständigung find ich klasse !!!
In diesem zusammenhang vielleicht für sie interessant :ein gaaaanz tolles kinderbuch haben wir grad im zusammenhang
mit religionen der welt gelesen : mein gott dein gott unser gott . wär toll wenn ihrs besprecht oder vrostellt !!!
liiieeeeeb grüsse magda perlinger
Herzlichen Dank für den positiven Kommentar und den Tipp! Den geben wir gern an unsere Autoren weiter – vielleicht greift ihn ja jemand auf (auf die Auswahl der Themen hat die Redaktion keinen Einfluss…) Liebe Grüße ebenso, für die Redaktion HIMMELrauschen: Stefan Koppelmann