Wenn Archäologen auf ein Gelände stoßen, in dem sie verborgene Schätze aus alter Zeit vermuten, sagen wir mal in Kalkriese, wo die Schlacht der Germanen gegen Varus stattgefunden haben soll, gehen sie akribisch vor. Sie graben und schaben erst einmal da, wo sie ein Objekt vermuten, und wenn sie tatsächlich darauf stoßen, tragen sie Schicht um Schicht vorsichtig ab, mit einem keinen Spachtel oder auch mit einem Pinsel, manchmal auch mit der bloßen Hand, bis sie den Gegenstand frei gelegt haben und sie ihn bewundern können. Mit der Erdkruste drumherum wäre der Fund unansehnlich, freigelegt zeigt er seine ganze Würde und Schönheit.
Ähnlich geht es mir mit dem „Holden Knaben im lockigen Haar“ und all dem Drumherum, das sich mit Weihnachen verbindet. Das Deutsche Wörterbuch führt seitenlang Zusammensetzungen mit „Weihnacht“ auf, und das geht vom „Weihnachtsbasar“ bis zur „Weihnachtszuwendung“, dazwischen die Kombinationen „Weihnachtsgeschäft“, „Weihnachtsgeschenk“, „Weihnachtsmarkt“ und, für´s häusliche Fest, „Weihnachtsgans“, „Weihnachtskarpfen“ und „Weihnachtsstollen“. All das sind nur wenige Beispiele dafür, wie die Weihnachtsbotschaft nunmehr als Weihnachtsfest in das Leben unserer Gesellschaft eingesponnen worden ist.
Oder soll man radikaler sagen: Das „Fest“ hat die „Botschaft“ verschlungen? Das glaube ich eigentlich nicht. Denn am Heiligen Abend sind noch immer die Kirchen voll, und das bei mehreren Gottesdiensten, und die Menschen hören die Weihnachtsgeschichte, die der Evangelist Lukas erzählt hat, voller Andacht, sie singen die Lieder, an die sie sich wieder erinnern, und gehen nach Hause mit dem Gefühl, an etwas Bedeutendem und das Herz Wärmendem teilgenommen zu haben.
Kommen wir zur Archäologie. Weihnachten ist ein Wirtschaftsfaktor. Daran ist nichts zu ändern. Weihnachten ist ein oft auch kitschiges Familienfest mit festen Bräuchen und Besuchen und genauso oft Stimmungs-Störungen, Auseinandersetzungen und Familienstreit. Warum? Weil Erwartungen nicht erfüllt und Beziehungen nicht mehr bruchlos gelebt werden können. Vielleicht stört auch die „Botschaft“ das „Fest“. Die Erwartungen waren vielleicht, dass im „Fest“ etwas von der „Botschaft“ zum Leuchten kommt. Aber was ist die Botschaft?
Der Evangelist Lukas – er ist von den vier Evangelisten der einzige, der die Geschichte erzählt – sagt uns Erstaunliches: Gott kommt zu uns. Wenn man mal alles Andere weglässt und nur auf den Text hört, bekommen wir gesagt: Damit Gott uns nah sein kann, wird er klein. Er will uns nah sein und legt sich in die Krippe. Er will uns nah sein und lässt uns, die wir mit Maria und Josef vor der Krippe stehen, sogar auf ihn herunterschauen. Warum macht er das? Lukas nennt das Kind den „Heiland“, das bedeutet offenbar, dass etwas geheilt werden soll. Am Schluss der Geschichte singen die Engel: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“.
Das sagt etwas über das Heil: Die Hilflosigkeit und Verletzbarkeit Gottes als Kind in der Krippe soll den Ballast des „Festes“ wegschmelzen und uns mit uns selbst, wie wir gemeint waren, verbinden. Wir sollen sehen und durchs Sehen erkennen, dass wir Geschöpfe sind, dass Gott einen Plan mit uns hatte, der auf Frieden und Gerechtigkeit gebaut war und zu dem er sich durch das Kind in der Krippe wieder und neu und unverrückbar bekennt. Das Kind in der Krippe ist für mich das Mensch gewordene Bekenntnis Gottes zu seiner Schöpfung und zu uns als seinen Geschöpfen. So verstehe ich den Satz: „Euch ist heute der Heiland geboren“. „Euch“, das sind zunächst mal die Hirten, und das sind genauso gut und sicher auch „wir“. Wir alle, jeder, und zwar nicht die Könige und die Reichen, sondern „wir“!
Ist Weihnachten ein schwieriges Fest? Schwierig ist es nur, wenn „Fest“ und „Botschaft“ sich miteinander verhaken. Wenn aber die Botschaft durchschimmert und sogar Glanz gewinnt, ist Weihnachten ein Freudenfest, ein Gottesfest und Menschenfest, ein Befreiungsfest und Adoptionsfest, ein Schöpfer- und Geschöpfefest. Maria und Josef waren arme Leute. Und trotzdem haben die Maler des Mittelalters dem Kind in der Krippe den Goldglanz um den Kopf gelegt: Hier glänzt Gottes Liebe zu seiner Schöpfung. Und wenn man das im Herzen hat, kann man auch singen „Holder Knabe im [!] lockigen Haar“, und dabei dürfen wir uns – aber nur ein wenig – auf die Weihnachtsgans, die Weihnachtsgeschenke und den Weihnachtsbesuch freuen. So sind wir nun mal.
Hans Erlinger