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Vom respektvollen Umgang zwischen den Generationen

Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren und sollst dich fürchten vor deinem Gott; ich bin der Herr. (Levitikus 19,32)

Wenn ich diesen Spruch lese, denke ich sofort an folgende Situation: Man sitzt im Bus, ein älterer Mensch kommt und wenn nicht genügend Platz frei ist, steht man auf und bietet ihm den Platz an. In solch einer Geste kommt zum Ausdruck, was dieses Gebot will. Es fordert uns auf, älteren Menschen den entsprechenden Respekt entgegenzubringen. Dieses Gebot hat schon eine alte Tradition.

Es steht so im Alten Testament. Die jüdischen Kinder der damaligen Zeit haben auf diese Weise gelernt, älteren Menschen mit Achtung zu begegnen. Bis heute gehört zu einer guten Erziehung, dass Kinder lernen, sich respektvoll gegenüber Älteren zu verhalten. Dieser Respekt kann auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Werten der vorhergehenden Generation umfassen. Nur so kann Neues entstehen. Doch einen respektvollen Umgang zwischen den Generationen braucht es weiterhin. Er ist der Kitt unserer Gesellschaft.

Jemand, der dieses Gebot sehr ernst genommen hat, war der jüdische Psychologe Viktor Frankl, der in der Nazizeit hätte auswandern können. Später schilderte er, warum er sich dagegen entschieden hatte. Bei einem Besuch bei seinen gebrechlichen Eltern in Wien zeigte ihm der Vater einen Steinbrocken der zerstörten Synagoge, auf dem das vierte Gebot stand: „Du sollst deinen Vater und Mutter ehren.“ Als er diesen in der Hand hielt, kam ihm das wie eine göttliche Eingebung vor. Er entschied sich, seine Eltern nicht im Stich zu lassen. Später kamen er und seine Familie ins Konzentrationslager. Seine Eltern und seine Frau starben. Er überlebte.

Doch was er erfahren hatte, wurde ihm zu einem Schlüsselerlebnis. Er betonte immer die Wahlfreiheit des Menschen, selbst unter den schwierigsten Bedingungen, statt dem Bösen nachzugeben, zu versuchen, Gutes zu tun und sich dadurch seine menschliche Würde zu bewahren. Zudem betonte er auch immer, wie wichtig Religion ist und dass dem Leben ein „höherer Sinn“ zu Grunde liegt. Darauf weist der Spruch hin: Wo wir auf Gottes Gebote hören und sie leben, bewahren wir die Würde und die Werte unseres Zusammenlebens.

Viktor Frankl ist mit dieser Entscheidung, in der Verfolgung bei seinen Eltern zu bleiben, ein besonderes Beispiel. Aber auch wir haben im Alltag die Wahl und auch die Aufgabe, uns zu entscheiden. Das fängt im Kleinen an, wie mit dem Platz im Bus. Was aber dort gelernt und gelebt wird, wirkt weiter.

Es liegt an uns, welchen Umgang wir miteinander pflegen, ob ältere Menschen vereinsamen oder eine Gemeinschaft quer durch die Generationen gelebt wird. Gemeinde will und soll das möglich machen. Viele erleben das auch besonders schön im Verhältnis von Großeltern und Enkeln. In dieser Beziehung ist manches möglich, was zwischen Kindern und Eltern nicht geht. Meine Großeltern sind schon gestorben, doch in meiner Kindheit waren sie für mich sehr wichtige Bezugspersonen, die mir gezeigt haben, was gemeint ist, wenn Martin Luther sagt: „Gott ist wie ein Backofen voller Liebe.“

Lasst uns dranbleiben und am guten Zusammenleben zwischen Jung und Alt arbeiten. Die Weisung dieses biblischen Verses macht uns Mut, eine gute Zukunft zu gestalten.

Selma Thiesbonenkamp