Kirche und Diakonie engagieren sich auf vielfältige Weise, um Menschen beim Älterwerden und erst recht im hohen Alter zu unterstützen. Altwerden und Alt sein in Deutschland sind bunt geworden. Genauso vielfältig ist das, was Seniorinnen und Senioren in Kirche und Diakonie finden können. Es gibt ganz niedrigschwellige Möglichkeiten, um mit anderen etwas zu unternehmen oder Gemeinschaft zu erfahren: in der Offenen Seniorenarbeit, bei Bildungsangeboten oder Seniorenreisen, in Seniorentagesstätten oder in Gruppen, Clubs und Treffs in fast jeder Kirchengemeinde. Entsprechend groß ist aber auch die Spannbreite der Dienstleistungen, wenn es im Alter schwierig wird. Sie reicht von stationären Pflegeeinrichtungen über betreutes Wohnen, ambulante Pflege zu Hause, Essen auf Rädern bis zur Pflegeberatung oder zu Demenz-Cafés. Zu den Ressourcen evangelischer Altenarbeit gehört aber natürlich auch das, was die Schatzkiste der Bibel uns bietet.
Einer der vielen kleinen Schätze ist der 71. Psalm. Er ist in der Luther-Bibel überschrieben mit „Bitte um Gottes Hilfe im Alter“. „HERR, ich traue auf dich, lass mich nimmermehr zuschanden werden“ beginnt er und hat dann Passagen wie: „Verwirf mich nicht in meinem Alter, verlass mich nicht, wenn ich schwach werde.“
Ich bin ein großer Fan der Psalmen. Sie bieten Lebensbegleitung in den Höhen und den Tiefen des Lebens, in allen Lebensphasen, für Einzelne und für die Gemeinschaft. Psalmübersetzungen und -übertragungen helfen mir, diesen Schatz immer noch besser zu verstehen. So habe ich mich Anfang dieses Jahres über die „Psalmen“ in der Übertragung von Huub Oosterhuis gefreut. 2011 sind sie im Niederländischen erschienen, 2014 im Herder-Verlag auf deutsch. Für die, denen der Name nichts sagt: Huub Oosterhuis, Jahrgang 1933, ist ein niederländischer katholischer Theologe und Dichter. Früher war er Studentenpfarrer in Amsterdam, hat eine konfliktreiche Geschichte mit seiner Kirche, war ganz wichtig für die Erneuerung von Liturgie und Gemeindegesang, weit über die katholische Kirche und die Niederlande hinaus. Einige seiner Lieder stehen im Evangelischen Gesangbuch. Sein Psalm 71 beginnt:
Ich sitze mauerfest, ich gehe nicht, komme nicht,
kein Antrieb, keine Sehnsucht –
Befreier, du, brich mich auf.
Flieg mich zu einem hohen Nest,
wo ich sicher bin, etwas sicher,
eine Steilküste mit Aussicht.
Im Folgenden ist von Not und Geborgenheit, von Rachegedanken und Vertrauen, von Mut und Angst, von Trostlosigkeit und Hoffnung die Rede. Der Psalm enthält von alledem etwas, denn im Leben kommt ja all das vor. Und im Alter erst recht. Ich höre, wie dieser betende Mensch an den dunklen Seiten des Alters leidet, wie Schwäche oder Krankheit ihn packt, andere über ihn tuscheln oder sie abschätzig behandeln. Er oder sie fühlt sich bedrängt, und das nicht nur äußerlich:
Verlasse mich nicht, wenn ich alt bin.
Aufgehoben von dir, seit meiner Geburt
hast du mich auf Schultern getragen.
Über mich hecheln die Feinde:
Der hat seine Zeit gehabt,
aus und vorbei.
Verhöhnen mich, hartherzig von oben herab
ob meines Lebenswandels, beschimpfen
meine Lieben, meine Kinder.
Kurt Wolff, früherer Leiter der Werkstatt für evangelische Paramentik in Düsseldorf-Kaiserswerth, hat diesen Aspekt in seiner Übertragung noch stärker aufgegriffen: „Die Krankheit bindet meine mir noch verbliebenen Kräfte. Freunde werden weniger. Es ist aus mit ihm, sagen die Leute, keiner kann helfen. Sie sagen nicht wie früher: Gott hat ihn verstoßen, oder: Gott nimmt ihn zu sich. Doch wünschen sie, dass es zu Ende geht. So hat er’s leichter, sagen sie, und wir haben freie Bahn, denken sie, wir haben eine Last weniger“ (aus: Kurt Wolff, Leben bist du. Die Psalmen persönlich genommen. 150 „einseitige“ Texte, Aussaat Verlag 1996).
Und doch hat Oosterhuis meines Erachtens recht, wenn er das Vertrauen auf Gott in seiner Psalm-Version stark macht. Man spürt durch die Worte hindurch die Lebenslust – noch im Alter:
Wir haben die Arme
umeinander gelegt, zählen
unseren Segensreichtum, warten ab
und singen deine fremden Psalmen,
um uns zu trösten, und ich erzähle
von der Zeit, als ich jung war,
von damals, als ich mit dir lebte –
in meinem Alter verlasse mich nicht:
Wenn ich alt werde, würdest du mich schleppen.
Da blickt jemand mit Vertrauen und mit einer positiven Lebensbilanz in die Zukunft. Aus dem, was bisher erlebt wurde, schöpft er oder sie Kraft für das, was kommt. Auf das vorhandene Erfahrungswissen lässt sich aufbauen. Das ist sogar noch eine Basis für die nächste und übernächste Generation. Zu diesem Erfahrungswissen zählt auch, Durststrecken im Leben überstehen zu können. Da war etwas von Gottes Begleitung von Beginn des Lebens an zu spüren, vielleicht sogar zu bekennen, zumindest im Rückblick.
Schön finde ich das Bild, das Oosterhuis für den Abschluss wählt: „Ich werde vielleicht das Harfenspiel und Geigenspiel erlernen…“ Da traut sich jemand, im hohen Alter noch einmal ein Instrument zu erlernen oder träumt zumindest davon. Und bei aller Unvollkommenheit bedeutet das: „…und was dann klingt, ist mein Psalm für dich – das muss dir dann genügen. Und mir auch.“
Hier glaubt jemand an Gott und ist sich klar darüber, dass Schwierigkeiten und schwere Zeiten zum Leben, gerade im Alter, gehören. Die Sorgen können einem ganz nahe auf den Leib rücken, Schmerzen das Leben prägen. Dennoch bleibt dieser Mensch im Horizont eines Lebens voll Hoffnung und Glauben. Der Glaube ist keine Garantie für Beschwerdefreiheit, aber er ist eine Kraftquelle, die sich in Gefährdungen bewährt. Es ist das, was trägt. Es ist ein Vertrauen zu Gott, das tief aus dem Innersten unserer Seele heraus sagt: Ich bin gehalten. Bei dir finde ich Zuflucht: „Flieg mich zu einem hohen Nest, wo ich sicher bin, etwas sicher, eine Steilküste mit Aussicht.“
Ehrlich ringt der oder die Beterin mit Gott. Ja, manchmal überwiegen die dunklen Seiten und manchmal die hellen Perspektiven. Der Psalm verschweigt nichts. Er lässt Raum für alle Zwischentöne, in uns und um uns herum. Je nach Lebenslage werde ich ihn vielleicht einmal mehr in Dur und dann wieder mehr in Moll singen. Doch solange ich so im Gespräch mit Gott bin, solange Menschen da sind, die mich nicht allein lassen – und nicht nur Feinde -, so sollte das genügen. Gott – „Und mir auch, so möge es sein, so möge es sein bis zum Tod.“
Andreas Müller