Weihnachten ist ein Fest der Traditionen und Traditionen müssen erzählt werden. Sie werden von den Eltern an die Kinder weitergegeben und von den Großeltern an die Enkelkinder. Im Judentum stellt der jüngste Sohn oder die jüngste Tochter den Eltern am Vorabend des Pessachfestes die Frage, warum sie gerade diese Speisen zu dem Fest essen. Der Vater antwortet, indem er den Kindern die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählt.
Auch Weihnachten ist ein Fest der erzählten Traditionen, ein Fest der Geschichten. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle die Geschichte von unserem Weihnachtsbaum erzählen. Es ist eine typische Weihnachtsgeschichte mit ein wenig Drama und ein wenig Kitsch und sie wiederholt sich so oder ähnlich jedes Jahr aufs Neue.
Alle Jahre wieder beginnt sie am 24. Dezember, wenn uns Kindern die Aufgabe zufällt, den Baum zu schmücken. Auch jetzt, wo wir alle aus dem Haus sind, hat sich diese Tradition erhalten. Kurz vor Weihnachten hat mein Vater den Baum gekauft und im Wohnzimmer aufgestellt. Die Älteste übernimmt dann das Kommando und bestimmt den Zeitpunkt des Schmückens. Die Festlegung der Uhrzeit ist alljährlich von dem Protest meiner Brüder begleitet, die die morgendlichen Stunden des 24. Dezember als unzumutbar empfinden. Letztendlich versammeln sich dann aber alle im Wohnzimmer und holen die Kisten mit dem Christbaumschmuck aus dem Keller.
Es gehört zur guten Tradition, dass nun alle das Aussehen des Baumes kritisieren. Dies ist nicht ganz unbegründet, da mein Vater dazu neigt, einen Baum aus Mitleid auszuwählen. So hatten wir schon einen Baum, dem eine ganze Etage fehlte oder einen Baum mit mehreren Spitzen. Nachdem wir uns alle beschwert haben, dass keiner so einen hässlichen Baum habe wie wir und mein Vater alljährlich zu bedenken gibt, wir könnten ja auch selbst den Einkauf übernehmen, machen wir uns ans Werk.
Über die Jahre hat sich in unserer Familie eine bunte Mischung an Christbaumschmuck angesammelt: Kugeln in Orange, Gold, Rot und Lila, dazu Schmuck aus Olivenholz, gebastelte Papiergirlanden aus Kindergartentagen, Salzgebäck und Strohsterne. Das besondere an unserem Baum ist, dass wir beim Schmücken keinem Farbkonzept folgen. Darauf sind wir mächtig stolz. Alles darf in den Baum gehängt werden und jeder hat seine Lieblingsstücke, die unbedingt einen Platz bekommen müssen: Erinnerungen von unseren Auslandsaufenthalten, eine Nussschale mit einer kleinen Krippe und eine aus Glas geblasene Gurke.
Am Ende werden dann noch die Kerzenhalter mit den Bienenwachskerzen befestigt und der Baum ist komplett. Brennen dann am Weihnachtsabend alle Kerzen am Baum, wird der unvollkommene Baum endgültig vollkommen. Auch wenn wir den Baum anfangs immer kritisieren, nehmen wir ihn dann vor Nachbarn oder Freunden in Schutz, wenn diese sagen, er sähe mit seinem bunten Schmuck gewöhnungsbedürftig aus.
In einem christlichen Kinderlied heißt es: „Die Weihnachtsfreude, die pustet keiner aus, die Weihnachtsfreude hängt nicht am Baum zu Haus.“ Ich denke mir: klar an dem Weihnachtsbaum hängt nicht der Sinn und Zweck des ganzen Festes. Sich das bewusst zu machen, kann manchmal auch entlastend sein. Aber Weihnachten und seine Traditionen dürfen ruhig Spaß machen. Schließlich haben wir allen Grund zum Feiern und zum fröhlich sein.
Das Lied geht weiter „Gott kam zu uns auf die Welt, wurde so wie wir. Wir wollen uns freuen, denn Jesus ist jetzt hier.“ All unsere kleinen Geschichten von Bäumen und Braten, Familie und Freunden, Keksen und Geschenken sind Teil einer großen Geschichte. Gott kam zu uns auf die Welt, um uns nah zu sein. Er kam, um Anteil zu nehmen an dem Guten und an dem Unvollkommenen in unserem Leben. Er kam, um Einsamkeit zu tragen und die gute Nachricht von Gottes Reich zu teilen und das lohnt es jedes Jahr aufs Neue, dies mit alten und neuen Traditionen zu erzählen.
Charlotte Behr