Wer sich einer neuen Umgebung einlebt, lernt automatisch ein paar neue Vokabeln. Eine Vokabel ist mir schon bei meiner Einführung als neuer Diakoniepfarrer im Dezember 2014 aufgefallen. Sie steht in keinem Wörterbuch für Ruhrpott-Deutsch und scheint mir dennoch viel über Essen auszusagen: Es geht um die „Stadtgesellschaft“.
Die beiden Bestandteile des Wortes, „Stadt“ und „Gesellschaft“, kannte ich natürlich. Die „Stadtgesellschaft“ jedoch findet sich weder im Duden noch in Wikipedia. In Essen habe ich das Wort dagegen aus dem Munde vieler gehört. Beispielsweise wird auf der Homepage des Evangelischen Kirchenkreises Essen öfter der ausdrückliche Bezug zur Stadtgesellschaft hergestellt. Und wer in die offizielle Strategie der Stadt „Essen.2030“ schaut, liest: „Bürgerinnen und Bürger und Akteure der Stadtgesellschaft wie Wirtschaft, Wissenschaft, Verbände und Politik sind eingeladen, gemeinsam die Zukunft unserer Stadt zu gestalten“.
Essen ist ohne Zweifel eine Großstadt. Sie partizipiert an den Hoffnungen und Befürchtungen, die Menschen mit einer Stadt von alters her und heute immer noch verbinden. Schon in der Bibel wird die Zweideutigkeit der Stadt klar. Sie ist einerseits wie Babylon von Größenwahn und Sprachverwirrung bedroht. Andererseits steht sie für das Versprechen eines gelungenen Lebens. Im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung, wird die Zukunft, wie Gott sie für seine Menschen wünscht, im Bild einer neuen Stadt ausgemalt: Ein Engel zeigt dem Seher Johannes „die heilige Stadt Jerusalem, herniederkommen aus dem Himmel von Gott, die hatte die Herrlichkeit Gottes“ (Offenbarung 21,10-11).
Wie ich es verstehe, versucht das Wort „Stadtgesellschaft“ zusammenzuhalten, was in der realen Gefahr steht, auseinanderzudriften und sich in viele kleine Gesellschaften aufzuspalten, die sich voneinander abschotten. Öffentlich und privat, arm und reich, heimisch und fremd, alt und jung – das sind einige der Spaltungen, mit denen jede Stadtentwicklung zu kämpfen hat. Gut, wenn die Verantwortlichen nicht nur die boomenden und gewinnträchtigen Seiten einer Stadt im Blick haben, sondern auch die Seiten, die zu einer sozialen und räumlichen Polarisierung beitragen.
Denn in einer immer komplexeren Welt ziehen sich zu viele Menschen in ihre vertraute Welt zurück. Sie beschränken sich auf die Menschen, auf das Milieu, das Quartier oder den Kirchturm, den sie kennen, und beschäftigen sich lieber gar nicht erst mit Fremdem oder Fremden. Die Evangelische Kirche in Essen setzt da andere Zeichen. Ganz anschaulich ist diese Haltung in dem Altarkreuz aufgenommen, das in der Kapelle der Geschäftsstelle des Diakoniewerks Essen hängt. Der Velberter Künstler Helge Kühnapfel hat es 1985 für das damalige Predigerseminar der Evangelischen Kirche im Rheinland geschaffen. In seinen eigenen Worten:
„Im Zentrum des Kreuzes ist von einer Seite das Himmlische Jerusalem, symbolisiert durch einen facettierten Bergkristall, umgeben von einer konstruktiven Gitterform = Hinweis auf die gebaute Stadt, dargestellt.“
Hier ist es wieder, das neue Jerusalem, das Gott verheißt. Unsere Hoffnung als Christen gilt der Stadt, in der Gott selber wohnt und Menschen so leben, wie sie von Gott vom Ursprung her gedacht sind. Es ist eine Stadt, in der die Tore offen sind, in der genug für alle da ist, in der es einst kein Leid, keine Schmerzen und keinen Tod mehr gibt. Gott erfüllt alles mit seiner befreienden und herrlichen Gegenwart.
Christen sind aufgerufen, ihr Bestes zu tun, an dieser Stadt jetzt schon mitzuwirken, jede und jeder an seinem Ort. Bauen wir also alle in der Stadtgesellschaft mit an der Stadt, die Gott uns verheißt!
Andreas Müller