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Sing ein Lied!

Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. (Apostelgeschichte 16,25)

Nach einer kurzen Nacht mit wenig Schlaf, weil mich so vieles wach hielt und ich in Sorge war, ob ich wohl alles so würde regeln können, dass es gut wird, laufe ich also etwas drömelig zur Arbeit mit Blick auf den Boden und lese plötzlich: Sing ein Lied. Ich habe keine Ahnung, wer das mit Kreide auf den Gehweg geschrieben hat, aber da stand es: Sing ein Lied. Ein Stückchen weiter stand die Aufforderung: Schau dich um.

Ich weiß nicht, ob es noch mehr Aufforderungen gab oder in welche Richtung ich hätte weiterlaufen müssen, um mehr zu lesen, ich habe auch beide Aufforderungen nur gelesen und nicht befolgt, aber – die Idee ein Lied zu singen, hat mich zumindest nicht losgelassen. Ich habe mich nämlich auf dem Rest des Weges gefragt, ob sich etwas in mir verändern würde, wenn ich jetzt einfach mal lossingen würde, anstatt weiter zu grübeln.

Sing ein Lied. Pfarrerinnen und Pfarrern fallen in solchen Momenten natürlich keine normalen Lieder ein, sondern immer irgendwelche Kirchenlieder, am liebsten Loblieder, aber das ist ja zweitrangig. Sing ein Lied. Ich glaube, ich hätte es tun sollen. Hätte stehen bleiben sollen, mich sammeln sollen und lossingen sollen und vielleicht, vielleicht hätte sich etwas getan. Wahrscheinlich hätte ich freier durchgeatmet, meine Stimmung wäre sicher um Oktaven gestiegen, ich hätte froher aus der Wäsche geguckt und mich über mich selbst amüsiert und vielleicht wäre auch die ein oder andere Sorge, wundersamer weise, mit meinem Gesang in den Himmel entschwunden.

Diese Chance habe ich verpasst. Mittlerweile hat es geregnet, die Aufforderungen werden verschwunden sein. Da ist mein Freund Paulus mal ganz anders. Paulus singt, er singt tatsächlich, ohne dazu aufgefordert zu werden, und er singt sogar im Duett mit Silas, obwohl beide nichts zu lachen, geschweige denn zu besingen haben. In der Apostelgeschichte stehen die folgenden Verse:

Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Kerkermeister, sie gut zu bewachen. Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und es hörten sie die Gefangenen. Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen und von allen fielen die Fesseln ab.

Als aber der Kerkermeister aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offen stehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier! Der aber forderte ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. Und er führte sie heraus und sprach: Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde?

Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig! Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren. Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen und führte sie in sein Haus und bereitete ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war.

Ja, getan haben die beiden nichts oder jedenfalls nichts Böses. Geheilt haben sie eine Frau, die von einem bösen Geist besessen war, aber das hatte einigen nicht gefallen. Ihre Einnahmequelle war dadurch hinfällig geworden. Und das wissen wir sicher alle und können es immer wieder erleben: Bei Geld hört der Spaß auf! Und da das Geld nun aufhörte, auch wenn es der Frau nun besser ging, verstanden die Herren der Frau so gar keinen Spaß mehr und für Paulus und Silas wurde es mehr als ernst.

Der lapidare Satz: Nachdem man sie hart geschlagen hatte, hieß wahrscheinlich nicht nur, dass sie geschlagen wurden, sondern wahrscheinlich werden sie ganz ordentlich ausgepeitscht worden sein. Anschließend in die hinterste Ecke des Gefängnisses geworfen zu werden, war sicher auch kein Spaß und die Füße in einem Block gebunden zu haben, ist sicher nicht nur ungemütlich, sondern ausgesprochen schmerzhaft.

Und da sitzen die Beiden nun und singen. Loben Gott mit vollen Kehlen. Und tun so, als würden sie das, was mit ihnen geschehen ist, nicht wahrnehmen. Die beiden haben also keine schlechte Nacht hinter sich, sondern eine verflixt schmerzhafte Nacht vor sich, und loben. Loben Gott und das ohne schriftliche Aufforderung. Das sei nur am Rande bemerkt, aber da werde ich denn doch ganz demütig und frage mich, was ich eigentlich zu klagen habe und warum ich an diesem besagtem Morgen nicht einfach gesungen habe.

Also Paulus und Silas singen. Loben Gott, obwohl es gerade nichts zu loben gibt – in meinen Augen, aber die sehen vielleicht auch nicht so klar wie die der beiden Männer. Und wie durch ein Wunder bebt die Erde, alle Türen öffnen sich, die Fesseln fallen ab.

Nicht, dass wir uns falsch verstehen: In unserer Geschichte wird nichts davon erwähnt, dass das Befreit-werden in einem kausalen Zusammenhang zum Loben der Männer steht; das glaube ich auch nicht. So kleinlich ist Gott nicht, dass er nur befreit, wenn man vorher gut gesungen hat – nein, da ist Gott ganz souverän. Wenn er befreien möchte, wenn er ein Wunder tun möchte, so kann man ihn bitten, aber es nicht ersingen oder durch andere Leistungen herbeizwingen.

Also, das Wunder geschieht: alle sind frei. Ja, das ist ein Wunder, aber für mich ist das nicht das eigentliche Wunder oder besser die eigentlichen Wunder.

Das erste wirklich Wunderbare ist, dass die Männer gesungen haben. Dass sie innerlich so frei waren, dass sie das, was der Glaube ihnen geschenkt hat, was Christus für sie getan hat, sie von aller Schuld zu befreien, so wahrnehmen konnten, dass das alles andere überstrahlt hat.

Das zweite Wunder ist, dass alle da bleiben. Das ist in meinen Augen fast nicht zu begreifen. Keiner läuft weg. Alle bleiben da, niemand nutzt die Situation aus, keiner will sich befreien und damit den Wärter in Schwierigkeiten bringen. Es wird geduldig abgewartet, was weiter geschieht. Und der Wärter wird gerettet, er wird davor bewahrt, sein Leben wegzuschmeißen.

Und das ist das dritte Wunder: Der Gefängniswärter erlangt neues Leben. Hat er eben noch gezeigt, dass er bereit ist, seine Macht auszuspielen, indem er Paulus und Silas in die hinterste Ecke verbannt, ja, zu fast allem bereit ist, um sein eigenes Leben zu schützen, so wandelt er sich in Sekunden. Aus dem Kerkermeister wird ein Sanitäter. War er eben noch bereit, anderen Wunden zuzufügen, so sieht er sich jetzt in der Rolle des Pflegenden; und nicht Paulus und Silas müssen sich befreien, sondern er befreit sie. Der ehemalige Kerkermeister wird zum Gastgeber, der ehemalige Befehlsgeber wird zum Zuhörer, der, der Leben vernichten konnte, wird zum Suchenden, sucht das wahre Leben.

Paulus und Silas singen und verändern damit die Welt, verändern die Menschen um sich herum.Weil sie Gott in allen Lebenslagen loben können – das ist sicher nicht jedem gegeben, aber die Zwei können es – darum sind sie frei, auch wenn sie gebunden sind, darum werden sie zum Vorbild für andere, darum können sie für Gott werben.

Ich bin nicht Silas, ich bin auch nicht Paulus, aber ich kann singen, nicht immer schön und nicht immer richtig, manchmal zu laut und oft zu leise, aber: wenn ich singe, gebe ich den Wundern Gottes Raum, sein Lob verändert die Welt, verändert andere, verändert am Ende auch uns. An dem Morgen vor ungefähr zwei Wochen habe ich meine Chance verpasst, aber für das Lob Gottes ist es nie zu spät.

Lassen Sie uns lobend und hoffnungsvoll singen, es werden nicht immer Mauern einstürzen und nicht jede Tür wird sich öffnen, aber uns, uns macht es frei.

Friederike Seeliger