Alle Jahre wieder… kommt die Erinnerung – und mir laufen die Tränen. Ich glaube, es wäre sehr schlimm, passierte es irgendwann vielleicht nicht mehr. Unabsichtlich, ungerufen – aber zuverlässig und treu – gehört sie zu meinem Weihnachtsfest: die sentimentale Erinnerung an jenes Krippenspiel im Jahr 1969, die sich mir für immer und ewig sozusagen ins Herz gebrannt hat.
Ich muss vorab dazu sagen: meine Mutter und ich hatten kein ungetrübtes Verhältnis zueinander. Im Gegenteil: oft ging es konflikthaft zu zwischen uns, verclincht: viel zu eng für mich, viel zu distanziert für meine Mutter. Jahrelang habe ich gekämpft, um mich frei zu strampeln von der Liebe einer Übermutter – jahrelang hat meine Mutter gelitten unter der Härte der Befreiungsschläge ihrer einzigen Tochter.
Ich habe mich mit allerlei Fantasien herumgetragen, was denn falsch sein könnte an unserem Verhältnis – in der Pubertät war es klar: spießig war meine Mutter, boshaft und überhaupt vom anderen Stern. Als ich in meinem Vikariat die Seelsorgeausbildung machte (ziemlich therapeutisch ging es dabei zu in den Achtzigerjahren) – wurde mir klar: schuld war meine Mutter. An meinem Übergewicht und meinen Hemmungen – überhaupt an allem Elend meines bisherigen Lebens.
Als ich selber Mutter wurde – nahm ich ihr übel, dass ihre Enkelkinder nun meinen Platz eingenommen hatten in ihrem Herzen. Die Freiheit, um die ich gekämpft hatte, fühlte sich jetzt wie Verrat an.
Warum ich das alles erzähle? Damit ihr verstehen könnt, was jenes Weihnachtsspiel 1969 in der Grundschule des kleinen Dorfes bei Köln, in dem ich aufwuchs, für mich bedeutet hat. Denn an allem nur Erdenklichen habe ich gezweifelt – nur seit diesem Weihnachten 1969 nie an der Liebe meiner Mutter.
MARIA wollte ich sein. Maria, die das Jesuskind in die Krippe legen durfte. Maria, die einen samtenen roten Umhang mit silbernem Innenfutter trug. Maria, die sich als erste nach dem Krippenspiel verbeugen durfte. Maria, nur Maria – mein Traum, mein Verlangen. Jeden Text wollte ich für diese Rolle auswendig lernen, egal wie lang und kompliziert er sein würde. Auswendiglernen fiel mir leicht.
Aber unsere Lehrererin wollte mich nicht für die Maria. Den Josef – den sollte ich spielen. Der hatte auch viel zu sprechen. Da wurde auch jemand gesucht, der gut auswendig lernen konnte.
Nein! JOSEF wollte ich nicht sein! Kein Junge, keinen grünen Umhang tragen und einen Hirtenhut, der nach Stroh roch.
Die Lehrerin ließ sich nicht überreden, nicht erweichen. Die Maria – das war nicht drin. Warum? „Weil du kurze Haare hast, Mädchen“, sagte sie. „Eine Maria hat langes Haar.“ Was sie so beiläufig erwähnte – es war wie ein Schlag ins Gesicht! Ich hasste meine Haare, diese dünnen Fusseln, die auch der beste Friseur nur zur Kurzhaarform stylen konnte. Die meine werdende Identität als Frau schon so früh irritierten! Und nun waren gerade sie der Grund, dass ich die MARIA nicht sein könnte.
Ich klagte mein ganzes Leid meiner Mutter – und sie verstand. Verstand wirklich, was da passierte in meiner Seele. Tat es nicht als Kinderkram ab. Meinte nicht, dass man halt nicht alles haben könnte im Leben und vertröstete mich auch nicht auf das Krippenspiel im nächsten Jahr. Meine Mutter stellte sich mir vielmehr mit Tatkraft zur Seite – und kämpfte für mich.
Am nächsten Schultag holte sie mich an der Schule ab und bat die Lehrerin um ein Gespräch. In der Hand trug sie eine große Schachtel. Meine Mutter hatte eine Perücke gekauft – blondes Engelshaar, Lockenpracht, die perfekte Requisite für eine Maria. Ob dieses Prachthaar die Lehrerin überzeugte oder das Gespräch, das meine Mutter und sie dann ohne mich führten – das habe ich nie erfahren. Aber: ich spielte die Maria in jenem Weihnachtsspiel 1969 meiner Grundschule. Trug das rote Gewand, patzte nicht ein einziges Mal beim Text und bekam den ersten Applaus.
Und ich weiß seitdem: was immer auch geschieht – ich werde geliebt und es ist auch immer einer da, der für mich eintritt und für mich da ist. Und seitdem: Tränen der Dankbarkeit. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit. Vielleicht braucht es gar keine andere Auslegung der Weihnachtsgeschichte als diese.
Anke Augustin