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Nach-Denk-Buch

Schon die ersten Menschen haben nachgedacht. Mensch-Sein ohne die Fähigkeit nachzudenken, ist wohl unmöglich. Aber dieses Nachdenken der Anfangs-Menschheit war sicher zunächst einmal so, wie wir auch im Alltag nachdenken: Wie komme ich über den Winter? Wie schütze ich mich? Wie hüte ich das Feuer? Und wir: Was muss ich einkaufen, damit ich etwas kochen kann? Was ist heute für ein Wetter und was ziehe ich an? Was erwartet mich im Büro? Kann ich dieses Jahr in den Urlaub fahren, und wenn ja, wohin soll oder kann die Reise gehen? Dieses Nachdenken ist eher ein Vordenken. Es sind Gedanken, die sich auf die nähere oder weitere alltägliche Zukunft beziehen.

Dann gibt es das Nachdenken über meine Verhältnisse. Wie komme ich mit meinen Nachbarn oder mit meinen Kollegen zurecht? Wie geht es mir mit den Menschen, die in meiner Nähe sind, mit denen ich zusammenlebe? Wie läuft es mit den Eltern oder mit den Kindern? Dieses Nachdenken kommt uns als Personen schon näher.

Und schließlich kommt wohl niemand darum herum, so heikle Fragen zu stellen, wie: Wo stehe ich eigentlich in meinem Leben? Hat das Sinn, was ich da gerade oder überhaupt mache? Wächst mir das nicht alles über den Kopf? Und wie wird das enden?

Aus der Frühzeit der Menschheit kennen wir Grabmale und Grabbeigaben.
Das kann nur bedeuten, dass schon die frühen Menschen über ihr Leben, ihr Schicksal und über die Zukunft nach dem Leben nachgedacht haben. Dieses Nachdenken, denke ich, führt zum Kern der Person.

Es gibt ein sehr frühes Beispiel für solches existenzielles Nachdenken. Es stammt aus der Zeit um zwölfhundert, gedichtet hat es Walther von der Vogelweide. Ich übersetze erst mal ein paar Zeilen aus dem Mittelhochdeutschen in unsere Sprache:

Ich saß auf einem Stein / Ich dachte nach und hatte die Beine übereinander geschlagen; / Darauf stützte ich den Ellenbogen: / Ich hatte in meine Hand geschmiegt / Das Kinn und eine Wange. / Da überlegte ich mir sehr intensiv / Wie man in der Welt leben sollte: / Ich konnte keinen Rat geben, / Wie man drei Dinge erwerben [und miteinander verbinden] könnte, / Dass sie sich nicht gegenseitig beschädigen. / Die zwei sind ein ehrenhaftes Leben und Besitz, / Was sich damit nicht verträgt, ist / Das dritte, nämlich die Huld Gottes, / Die Übergoldung der beiden anderen.

Der mittelalterliche Text, viel schöner als die Übersetzung, lautet so:

Ich saz uf eime steine, / Und dachte bein mit beine; / Dar uf satzt ich den ellenbogen: / Ich hete in mine hant gesmogen / Daz kinne und ein min wange. / Do dachte ich mir vil lange / Wie man zer welte sollte leben: / Deheinen rat kond ich geben, / Wie man driu dinc erwurbe, / Der keines nicht verdurbe. / Diu zwei sint ere und varnde guot, / Daz dicke ein ander schaden tuot: / Daz dritte ist gotes hulde, / der zweier übergulde.

Walthers Schluss ist, dass es unmöglich ist, dass ein ehrenhaftes Leben, Besitz und Gottes Huld zesammene in ein herze komen. […] Diu driu enhabent geleites nicht: Die drei haben kein freies Geleit. Die Zustände in der Welt lassen das nicht zu.

Hier ist das Nachdenken zum zentralen Punkt gekommen: Wie stehe ich und bestehe ich als Bürger mit all dem, was ich habe und als Christ und Gotteskind?
Wir alle sind Bürger mit gesellschaftlicher Anerkennung und müssen uns in der bürgerlichen Welt behaupten. Wir alle haben und brauchen das varnde guot, das heißt, die bewegliche Habe, für die es am Ende keine Taschen gibt. Worüber müssen wir nachdenken und welches Ergebnis soll das Denken haben?

Wir brauchen nicht steinerne Denk-Mäler zu errichten, wie die Megalith-Menschen, wir haben ein ganzes Nach-Denk-Buch. Über tausend Jahre haben unsere Vorfahren ihre Gedanken über menschliches Leben und gotes hulde in Geschichten gefasst und schließlich im Alten und Neuen Testament niedergelegt. Die ganze Bibel ist ein einziges Suchdokument zum Zusammenhang von unserem Leben und Gottes Plan mit seiner Schöpfung. Ein Zeichen, aber auch nicht mehr, hat Gott uns mit dem Menschen Jesus gegeben. Zeichen sind vieldeutig. Und so haben es auch die Menschen verstanden, die dieses Kreuz geschaffen haben:

Ist dieser Christus nun gekreuzigt oder erhöht, noch bei uns oder schon bei Gott, ein Opfer oder ein Überwinder? Jesus war kein Bürger mit gesellschaftlicher Anerkennung. Er hatte auch kein varndes guot, aber, wie diese Kreuzschöpfung offenbar zeigen soll, er hatte Daz dritte, gotes hulde, der zweier übergulde. Das sollte uns zum Nachdenken bringen.

Hans Erlinger