Ich glaube; hilf meinem Unglauben! (Markus 9,24)
„Mit dem müssen Sie mir nicht mehr kommen“, so werde ich von einer Patientin begrüßt, nachdem ich mich als Krankenhausseelsorgerin vorgestellt habe. „Mit dem bin ich fertig!“ Ihr Ehemann versucht zu beschwichtigen, aber das schafft er nicht. Dann erzählt sie aus ihrem Leben und ich kann nur ahnen, wie schwer es war, durch wie viele Sorgen es geprägt wurde, wie anstrengend manchmal ein ganz normaler Tag gewesen sein muss.
Während sie erzählt, denke ich: das ist aber ein großes Paket, das diese Familie tragen musste. Und als sei das nicht genug, endet sie damit, dass sie erzählt, dass nun ihr Kind gestorben sei. Alle drei sitzen wir wie erschlagen zusammen. Was soll ich da sagen? Wie kann ich da trösten?
Wieder beginnt sie, wie um sich selbst zu bestätigen: „Mit dem bin ich fertig!“ Und ganz vorsichtig frage ich nach, wie das in der Vergangenheit war, denn ich habe deutlich gehört, dass sie jetzt mit ihm fertig ist, aber das war anscheinend doch mal anders. Und sie sagt, ja, früher hat er geholfen, aber jetzt, jetzt hat er uns im Stich gelassen; und auch diese neue Not, die sie durchleben muss, kann ich nur erahnen.
Aber ich habe das Gefühl, da ist noch mehr. Mir kommt diese ganze Abwehr wie ein Ruf nach Hilfe vor, den ich, das muss ich erkennen, nicht erhören kann, denn meinen Versuch, ihr Hilfe anzubieten, winkt sie nur ab. Ganz vorsichtig versucht der Ehemann, der selbst erkrankt ist, erneut zu helfen, ganz leise sagt er: „Aber ich will doch nach vorne schauen.“ Doch sie hält fest an dem, was sie gesagt hat: „Mit dem bin ich fertig.“ Sie ist gefangen in ihrer Not und kann – jedenfalls im Moment – aus diesem Gefängnis auch nicht heraus.
Traurig verlasse ich das Zimmer, weil ich ahne, dass ihre Abwehr manches noch schwerer macht, sie sich Hilfe und das Annehmen von Hilfe selbst verbietet. Aber ich kann sie auch verstehen. Sie ist enttäuscht von dem, auf den sie sich immer verlassen hat und der ihr das genommen hat, was sie von Herzen liebte. Sie kann die Welt nicht mehr verstehen, hatte sich das Leben doch so anders ausgemalt, hatte gehofft, dass jetzt alles gut wird und dann das. Der Tod ihrer Tochter hat sie völlig aus der Bahn geworfen und sie macht letztendlich den dafür verantwortlich, der unser aller Leben in seiner Hand hält und von dem sie doch auch glaubt, dass er das tut: Gott.
Ich glaube; hilf meinem Unglauben!
Diesen Schrei nach Hilfe macht der Vater eines schwerkranken Kindes, nachdem er auf Heilung durch die Jünger Jesu hoffte. Doch er musste erkennen, dass die Jünger Jesu sein Kind nicht heilen konnten, dass sie dieses nicht zu tun vermochten. Als er daraufhin Jesus erblickt, wendet er sich in seiner großen Not an ihn. Er hofft, dass Jesus nun in der Lage ist, seinem Sohn zu helfen, aber nachdem die Jünger versagt haben, ist er vorsichtig geworden und fragt ängstlich bei Jesus nach: „Wenn du aber etwas kannst, dann…“
Oh, wie gut kann ich diesen Vater verstehen! Er ist in so großer Not, hat wahrscheinlich schon oft, nicht erst bei den Jüngern erfahren müssen, dass sein Kind so krank ist, dass keiner helfen kann, und trotzdem möchte er nicht aufgeben. Aufgeben hieße ja, dass er sein Kind im Stich lässt.
Und so versucht er alles Menschenmögliche und hat dabei auch Angst um seine Seele, um die Seele seines Kindes. Denn wie soll man umgehen mit Hoffnungen und Erwartungen, die am Ende doch nicht erfüllt werden? Wie soll man aushalten, dass die Realität einen immer und immer wieder einholt? Wie soll das gehen, Hoffnung zu haben und doch immer einen Rest an Zweifeln in sich zu spüren? Aber ohne diese Hoffnung wäre alles Leben noch schwerer, noch mühsamer auszuhalten. „Wenn Du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!“
Vielleicht wären wir alle so zurückhaltend wie dieser Vater, vielleicht gibt es auch in unserem Leben Situationen, wo ein letzter kleiner, nagender Zweifel zurückbleibt, vielleicht haben auch wir manchmal zu viel Angst, es könnte im letzten Moment doch nicht gelingen… Und also fragen wir vorsichtig nach, scheuen wir uns, es gleich zu glauben, zu viele Hoffnungen zu haben.
Doch Jesus weist ihn zurecht, kritisiert genau diese Haltung, diesen Restzweifel und antwortet: „Alle Dinge sind möglich, dem der da glaubt“; in einer anderen Übersetzung heißt es: „Alles kann Gott dem zugute, der glaubt.“ Der Vater begreift sofort, er versteht im selben Augenblick, dass hier Hilfe ist, sein Sohn geheilt werden kann. Und so schreit er in seiner Not: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“
Und mit diesem Ausruf legt er nicht nur das Leben seines Kindes in die Hände Jesu, sondern auch sein eigenes. Der Vater bittet nicht mehr nur für seinen Sohn, sondern auch für sich. Seine ganze Verzweiflung, dass es seinem Kind so schlecht geht, seine eigene Ohnmacht, hier nicht helfen zu können, sein Nicht-Glauben-Können, dass alles gut wird, seine eigene Hoffnungslosigkeit, wenn er an die Zukunft seines Sohnes denkt – all das wird mit diesem Schrei Jesus in die Hände gelegt, abgegeben an den, der allein helfen kann.
Und er hilft. Jesus heilt.
In dieser Geschichte gibt es ein Happy End; in meiner Geschichte aus der Klinik nicht – noch nicht – vielleicht.
Ich will damit jetzt nicht sagen, dass der Tod eines Kindes am Ende zu einem Happy End gehört, nein, das auf gar keinen Fall. Wenn ein Kind stirbt, ist das schrecklich und es bleibt schrecklich – aber vielleicht kann man lernen, damit zu leben. Vielleicht kann man dahin kommen, das eigene Kind in die Hände Gottes wieder zurückzugeben, es ihm im Tod anzuvertrauen, egal wie alt es wurde, und das eigene Leben weiter in seiner Hand zu wissen, darauf vertrauend, dass er den Weg, unseren Lebensweg, kennt.
Denn dieser Schrei des verzweifelten Vaters, diese Bitte um Hilfe und Unterstützung, diese Bitte um Festigung des eigenen Glaubens, diese Bitte könnte auch die Mutter, von der ich erzählt habe, stellen. Und würde sie erhört, dann würde das diese verzweifelte Frau vielleicht öffnen für Hilfe und Hilfsangebote, für Stärkung und auch für Trost.
Dieser Schrei des verzweifelten Vaters, der auch unsere Jahreslosung für das neue Jahr 2020 ist, dieser Schrei ist eine Bitte um Stärkung, ist Sorge um die eigene Seele, ist das Wissen um menschliche Schwäche, ist eine Bitte um Hilfe in der eigenen Angst, angesichts der vielen Zweifel, der eigenen Mutlosigkeit.
Und es ist eine Bitte, die nicht nur von sorgenden Eltern gestellt werden kann, sondern von uns allen: In der Not, das eigene Leben anzunehmen; der Not, den Abschied von Menschen, die wir lieben, in unser Leben zu integrieren; der Not, immer und überall auf Gott zu vertrauen, keine Zweifel zu haben, nicht auch einmal hoffnungslos zu sein. All das kennen wir vielleicht auch – ich kenne es jedenfalls.
Und vielleicht wäre es klug, diesen Schrei um Hilfe nicht nur im Hinterkopf zu haben, um ihn zu nutzen, wenn wir in Not geraten. Vielleicht wäre es gut, diese Bitte immer und immer wieder zu äußern, auch in zweifelsfreien Zeiten, weil Glaube ein Geschenk ist und nichts, was wir fest in der Hand haben.
Amen.
Friederike Seeliger
Ein wunderbarer Beitrag!