Die evangelischen Landeskirchen verstehen sich als „Volkskirchen“. Weltweit ist das ein Sonderfall. Außer in Deutschland, dem Ursprungsland der Reformation, ist das nur noch in Skandinavien und in der Schweiz anzutreffen. Was macht nun unsere Kirche zur Volkskirche? Auf den ersten Blick sind es drei Säulen, wie die drei Beine eines Tisches.
Das erste Bein ist die Kindertaufe. Die meisten, die heute zur Kirche gehören, haben sich nicht dafür entschieden. Ihre Eltern haben sie als Kind taufen lassen. Um aber eine Gelegenheit zu schaffen, dieses Geschenk selbst auszuwickeln, setzte sich seit dem 16. Jahrhundert die Konfirmation durch.
Das zweite Bein ist die „Parochialstruktur“: Jedes Haus in unserem Land gehört zu einem Pfarrbezirk; eigentlich sogar zu zweien; nämlich zu einem katholischen und einem evangelischen. So wie jedes Haus eine Postanschrift und einen Postboten hat, so gibt es überall auch einen Pfarrer oder eine Pfarrerin, der oder die für die „religiöse Versorgung“ verantwortlich ist. Das ist so flächendeckend wie bei Polizei und Feuerwehr. Folglich wird die Kirche häufig ähnlich wahrgenommen: Als Dienstleister – es ist gut, dass es sie gibt, aber es ist besser, wenn man sie nicht in Anspruch nehmen muss.
Das dritte Bein ist der Einzug der Mitgliedsbeiträge durch den Staat, also als Kirchensteuer. Das stammt aus der Zeit, als der Landesfürst auch Kirchenoberhaupt und die Kirche Staatskirche war. Seit 1919 gibt es das in Deutschland nicht mehr. Das Inkassosystem aber wurde beibehalten.
Nun weiß jeder: Ein dreibeiniger Tisch wackelt nicht. Doch halten die Beine auch, wenn der Wurm drin ist? Zum Thema Kirche gibt es kaum ein Reportergespräch, welches nicht mit der Frage beginnt: „Wie sieht die Zukunft der Kirche aus, wenn ihr die Mitglieder weglaufen?“ Es ist offenkundig: Wer will, dass die Kirche bleibt, kann nicht wollen, dass sie so bleibt wie sie ist.
Nun ist es aber ein großes Problem des kirchlichen Normalbetriebs, dass dort oft sehr zaghaft und wenig inspirierend vom Kern der christlichen Botschaft gesprochen wird; von der Kern-Energie des Evangeliums: Am Kreuz Christi versöhnte Gott die Welt mit sich selbst; durch die Kraft des Heiligen Geistes erneuert und gestaltet er unser Leben. Die Volkskirche wird dann eine Zukunft haben, wenn dieser rote Faden in allen Arbeitsbereichen wahrnehmbar ist.
Zweifellos gibt es viele fleißige Pfarrerinnen und Pfarrer, treue Mitarbeiter, Haupt- und Ehrenamtliche; viel Engagement und Arbeit. Aber ist vom einstigen Feuer nur eine schwache Glut geblieben? Wenn jedoch der Heilige Geist als Sauerstoff des Glaubens die Flamme entfacht, dann ändert sich alles. Es gibt schon heute Weggemeinschaften und Netzwerke engagierter Leute. Geistliche Persönlichkeiten in weltlichen Berufen. Mit einem inspirierenden Leben als Straßenbahnfahrer oder Ärztinnen, als Polizeibeamte oder Ingenieure. Es gibt wachsende Gemeinden und Pfarrstellen, die durch Spenden finanziert werden.
Die Kirche kann sich selber nicht reformieren, aber sie kann sich reformieren lassen von dem, der sogar einen glimmenden Docht nicht auslöscht. Was glauben Sie: Ist das eine illusionäre Seifenblase oder eine begründete Hoffnung?
Hermann Bollmann