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Ist Blut dicker als Wasser?

Vor 25 Jahren habe ich bei meiner Antrittspredigt in der Psychiatrie hier in Essen über eine Frage nachgedacht, die mich immer mal wieder beschäftigt hat; nämlich die Frage: Ist Blut wirklich dicker als Wasser?

Vielleicht kennen sie die Redewendung: „Blut ist dicker als Wasser“. Damit ist gemeint, dass Bindungen innerhalb der Familie immer stärker, prägender und letztlich wichtiger bleiben als spätere Bindungen oder Beziehungen mit nicht verwandten Menschen.

Wir hier in der Psychiatrie erleben immer wieder wie viel Macht das „Blut“ hat. Wir erleben, dass gerade Menschen mit einer schwierigen Biografie, Menschen, die keine liebevollen und fürsorglichen Eltern hatten, auch später als Erwachsene sehr unter den zerstörerischen Beziehungsmustern leiden und lebenslang verhaftet bleiben in den Fesseln ihrer Kindheit.

Und es weiß jeder und jede von uns aus eigenem Erleben, wie schwierig es ist, das Problematische, Beziehungs-Hinderliche unseres eigenen emotionalen Erbes abzulegen. Gerade in Streitigkeiten mit uns nahen Menschen brechen diese wenig beziehungsförderlichen Muster durch, wenn wir uns unverstanden fühlen oder ohnmächtig. Das ist dann in der Regel das beherrschende Thema bei Paarkonflikten.

Wir, die wir in der Seelsorge tätig sind und in der Psychiatrie natürlich ganz besonders, wissen, wie wichtig verlässliche, liebevolle Bindungen sind – besonders in der Kindheit – aber auch darüber hinaus, um einen guten Boden für die Herausforderungen unseres Lebens zu haben; um uns sicher zu fühlen – gerade in Zeiten der Krisen.

Wenn ich auf mich selbst als Kind schaue, kann ich sagen, dass ich auch keinen besonders guten, verlässlichen Boden hatte. Mehr oder weniger zufällig bin ich in den Kindergottesdienst der Kirchengemeinde um die Ecke geraten und habe dort Geschichten gehört: Erzählungen von einem Gott, der ist wie ein fürsorglicher Vater. Ein Vater, der mich beschützt, der mich kennt, der mich liebt – wie sein eigenes Kind; einem Gott, der seine Menschen aus aussichtsloser Lage, sogar aus der Knechtschaft führen kann. Diese Geschichten haben mich tief berührt und dieser Glaube hat mich getragen und dieser Glaube hat mir ermöglicht, schließlich doch mit Zuversicht und Hoffnung in die Welt gehen.

„Religion“ bedeutet, übersetzt, ja auch „Rück-Bindung“ (lat. „religio“). Also offenbar eine Ver-Bindung zu Gott, die uns ebenso begleiten und tragen kann wie die liebevolle Verbindung von Mensch zu Mensch. Von dieser besonderen Verwandtschaft mit Gott erzählt auch noch eine andere Geschichte in den Evangelien, bei Matthäus 12,46-50:

Jesus redet gerade vor den Menschen. Da kommt Jesu Mutter. Sie ist angereist und will Jesus sofort sprechen. Doch Jesus sagt zu den Umstehenden: Wer ist meine Mutter, wer sind meine Geschwister? Ihr, die ihr um mich seid, ihr seid mir Vater, Mutter, Schwestern und Brüder!

Mit dieser Verwandtschaft im Rücken kann ich aufrecht und mit Vertrauen ins Leben gehen! Und wie wichtig Vertrauen für unsere psychische Stabilität ist, hat der sehr umtriebige Neurobiologe Gerald Hüther einmal sehr schön bildlich beschrieben. Er sagt, es gibt drei Säulen des Vertrauens. Erste Säule: Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Zweite Säule: Das Vertrauen in die Fähigkeiten anderer. Und die dritte Säule: Das Vertrauen in eine höhere Macht oder eben konkret in Gott.

Gerald Hüther beschreibt, dass es mindestens zwei dieser drei Säulen des Vertrauens braucht, um auch stürmische Zeiten, wie persönliche oder politische Krisen, gut zu überstehen. Eine einzelne Säule gerät leicht ins Wanken. Das erleben wir zum Beispiel, wenn wir erkranken. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten kann dann in Frage stehen oder ganz wegbrechen. Spätestens dann braucht es eine weitere Säule.

Ich hatte Glück! Ich bin „religiös musikalisch“, um es mit den Worten Habermas‘ zu sagen. Und sehr viele Menschen sind es auch und auch noch heute, selbst wenn die Anbindung an kirchliche Institutionen abnimmt.

Ich habe in den vergangenen Jahren viele Patienten und Patientinnen getroffen, für die ihre Spiritualität eine Kraftquelle ist. Gleichgültig ob und wo sie sich in den konfessionellen Traditionen heimisch fühlten: Der Glaube, Teil eines größeren Ganzen zu sein, wird als sinnstiftend und stärkend erlebt und ist eine wichtige Facette unseres Menschseins und deshalb auch hier in der Psychiatrie eine wichtige Ressource, die Raum haben sollte.

Mein Gottesbild hat sich im Laufe meines Lebens ergänzt. Aber bis heute tragen mich die persönliche Erfahrung und Gottes Zusage, dass ich und alle Menschen letztlich geliebte Kinder Gottes sind. Und das gilt dann natürlich auch für Menschen, die ihre Beziehungen destruktiv gestalten. Meine Überzeugung hat mir immer wieder geholfen, allen Menschen mit Wertschätzung zu begegnen und ihnen auf Augenhöhe zuzuhören.

Zum Schluss schulde ich Ihnen noch die Antwort auf die Frage: Ist Blut dicker als Wasser?

Manchmal ist Blut dicker als Wasser. Da versickern alle Bemühungen, Schweiß und Tränen, alles therapeutische Können, alle liebevollen Beziehungsangebote. Die destruktiven Muster behalten trotzdem die Oberhand.

Ganz oft aber gelingt was Neues: Menschen lernen beziehungsförderliche Verhaltensmuster, trauen neuen Bindungsangeboten, sammeln gute Erfahrungen mit „Fremden“ und finden so den Weg in ein freieres Leben.

Meine Antwort auf die Frage „Ist Blut dicker als Wasser?“ lautet: Christi Blut ist dicker als Wasser. Amen.

Iris Müller-Friege

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