Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. (Jesaja 66,1)
Es ist eine wunderbare und bedenkenswerte Jahreslosung, die uns durch das Jahr 2016 begleiten soll. Sie stammt aus dem letzten Kapitel des alttestamentlichen Propheten Jesaja. Ja: Gott tröstet wie ein (gute) Mutter: Wir müssen uns Gott also wahrlich nicht zwangsläufig als Mann vorstellen; nur weil das über Jahrhunderte hinweg so geschehen ist. Ich bin dankbar dafür, dass „Gott-Vater“ schon in der Bibel neben allen männlichen auch ganz und gar weibliche Züge trägt. Unser Glauben wäre sonst um Entscheidendes ärmer.
Moderne Soziologie lehrt, dass Frauen in ganz anderer Weise auf Bindungen zu ihren Kindern Wert legen, als Väter das tun – auch liebevolle Väter! Mütter haben offenkundig schlicht einen anderen Zugang zu ihren Kindern und spüren viel schneller, was ein Mensch (ihr Kind) braucht. Trost orientiert sich ja immer am Bedürfnis des anderen, nicht am eigenen.
Und: Trost ist bei weitem nicht immer und für jeden dasselbe. Mal ist es das gute Wort, mal die Hand auf der Schulter; mal das angebotene Taschentuch; mal der lange Spaziergang, mal das gemeinsame Schweigen, mal das klärende Gespräch. Immer aber erschließt Trost Zukunft. Er schenkt neue Perspektiven in dunklen Stunden.
Aber leider – Gott sei’s geklagt – gibt es auch ungezählte Menschen, denen das Geschenk trostreicher Mütter (und Väter) schmerzhaft fehlt. Menschen, die alles andere, aber keine guten Erfahrungen mit ihren Eltern gemacht haben. Es gibt Familien, in denen es wahrhaft trostlos zugeht.
Stellt das die Hoffnung, von der Jesaja spricht, nicht infrage? Doch! Und wie! Ja mehr noch: Wissen wir nicht alle auch, dass der Trost, den andere Menschen uns geben können, nicht zwangsläufig ist und bestenfalls vorläufig; dass es auch eine Traurigkeit gibt, bei der uns alle tröstlichen Worte und Taten fehlen? Vor solchen Situationen möchten wir am liebsten weglaufen. Aber zugleich wissen wir, wie wenig das hilft. Wohin sollten wir denn gehen mit unserer Hilflosigkeit?
Deshalb wird für mich ganz am Ende aus der Verheißung des Jesaja erst dann ein wirklich tragfähiger Gedanke, wenn ich ihn umkehre: nicht die Art, wie wir einander (hoffentlich gut) trösten, liefert einen Maßstab für den göttlichen Trost – sondern der Trost Gottes wird zum Orientierungspunkt für all unsere Versuche, einander zu trösten.
Wenn wir mit unserem Latein am Ende sind, heißt das noch lange nicht, dass auch Gott am Ende ist. Nur deshalb feiern wir alljährlich das Osterfest. Ganz „bei Trost“ ist also der, der nicht nur auf Menschenmögliches setzt, sondern die Möglichkeiten Gottes nicht aus dem Blick verliert.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen dieses ganz sicher: dass Sie immer ganz und gar bei Trost sind und dass Sie deshalb immer wieder gute Tröster werden können. Mehr noch aber wünsche ich Ihnen, dass es für Sie viele Tage in diesem neuen Jahr gibt, die voller Freude, Glück und Dankbarkeit sind – und dass Sie das Geschenk eines „ganz normalen“ Alltags nicht gering schätzen.
Joachim Lauterjung