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Das Schaf am Strand

Ein Schaf! Am Strand! Wie kommt ein Schaf in diese Umgebung? Ich habe nachgeforscht: Es gibt tatsächlich Schafe, die in der Nähe des Meeres oder sogar an Stränden leben. Sie fressen salzhaltige Pflanzen und Gräser und kommen mit dem rauen Klima gut klar: zum Beispiel das Texel-Schaf oder das Gotland-Schaf, das Salzwiesenschaf und auch die Heidschnucke.

Nur: Die sehen alle ganz anders aus als unser Schaf auf dem Foto. Sie haben einen dunklen Kopf – oder überhaupt dunkles Fell. Und sie sehen deutlich zerzauster aus. Klar, Sie müssen ja auch tagein-tagaus dem rauen Klima und vor allem den Winden trotzen. Unser Schaf dagegen ist ein ganz normales Wiesenschaf aus dem Binnenland. Weder ist es die rauen Winde gewöhnt noch die harten Pflanzenstängel und Gräser, die an der Küste wachsen. Nachdenklich sieht es uns an. Als wollte es sagen: Ich habe auch keine Ahnung, wie ich hierher verschlagen wurde.

Ein irgendwie verlorenes Schaf – für mich ist das Tier in diesem Jahr nicht so sehr ein Gefährte für die Fastenzeit. Unter normalen Umständen könnte es uns vielleicht Mut machen, einmal die eigene Komfort-Zone zu verlassen und neue Horizonte kennenzulernen. Aber es ist gerade nicht normal. Wir müssen uns überhaupt nicht bewegen, um die Komfortzone zu verlassen. Es passiert von selbst. Ohne dass wir irgendetwas dafür tun, verändert sich sehr viel:

Es gibt in unserem Land jetzt eine konservativ-rechte Mehrheit. Die Vereinigten Staaten von Amerika, der große Beschützer, ist kaum wiederzuerkennen: DAS Land, das den größten Anteil hatte, Europa vom deutschen Faschismus zu befreien und all die Jahrzehnte seitdem so etwas wie unsere Lebensversicherung war – es will den Job nicht mehr machen. Und mehr noch: Amerika ist in jeder Hinsicht Chaos geworden. Russland, das zwar immer schwierig war und weit entfernt von einer freien Gesellschaft – es ist von einem feindlichen, aber berechenbaren Staat zu einer gefährlichen Größe mutiert, mit einem skrupellosen Autokraten an der Spitze.

Vielleicht ist es dem Schaf auch so ergangen: Eben stand es noch gemütlich auf seiner Wiese – und schwupps! – landet es im rauen Meeresklima, das Ertrinken vor Augen. Es sieht uns an wie manche der Teilnehmenden des EU-Gipfels in Brüssel. Oder wie die Expertinnen und Parteisprecher in den Brennpunkten nach der Tagesschau, die es jetzt schon fast täglich gibt. Wie sind wir nur da gelandet, wo wir jetzt sind? Es gibt viele Erklärungen.

EIN Aspekt scheint mir besonders wichtig zu sein: Wir konnten uns das einfach nicht vorstellen. Weder dass Trump wiedergewählt werden würde – wir in Deutschland haben unsere Hoffnung mit der Realität verwechselt, und das nicht zum ersten Mal. Noch dass es Szenen geben würde wie die im Oval Office. Und auch nicht, dass die AfD bei aller Ausgrenzung und jeder Brandmauer zum Trotz über 20 Prozent kommen würde. Schon gar nicht, dass wir und die anderen europäischen Staaten gigantische Summen für eine neue Aufrüstung aufbringen würden – und dass wir es tun MÜSSTEN! Oder hätten Sie es für möglich gehalten, dass diese gigantischen Militärausgaben nicht zu Riesendemos führen würden wie in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts? Sondern dass sie irgendwie beruhigend sein würden für den größten Teil der Bevölkerung?

Wir konnten es uns nicht vorstellen. Es ist so lange gutgegangen. 80 Jahre Frieden. Wohlstand. Ja, es gab Störungen, immer wieder. Die ersten großen Demos in den 60er Jahren. Dann, seit den 70er Jahren: Attentate von links und rechts und von Islamisten – letzteres zunehmend. Aber doch nicht auf Weihnachtsmärkten, im Park, bei einer Gewerkschaftsdemo.

Wir waren einfach daran gewöhnt, dass es gut ging – trotz aller Schattenseiten. Das ist vorbei, für eine lange Zeit. Die Brandmauern, die uns schützten – und es waren etliche, nicht nur die zur AfD – diese Schutzmauern zerbröseln. Wir spüren die Stürme, die Gefahren, die Zumutungen. Es wird in Zukunft mehr von uns verlangt werden, von jeder einzelnen, von einem jeden.

Und so stehen wir da wie das Schaf, sind ein bisschen verwirrt, sind traurig, sind ängstlich, können es noch immer nicht fassen – und müssen doch in der neuen Umgebung zurechtkommen. Wie kommt das Schaf damit klar? Naja, sagt es, die vertraute Wiese, das bequeme Leben, der Schäfer und die Schutzhunde – dazu sicheres Futter – das scheint vorbei zu sein. Ich wurde nun hierher versetzt. Das ist schon ruppig hier. Aber ich weiß: Es gibt welche von meiner Art, die leben schon sehr lange unter den rauen Bedingungen der Küste. Sie haben gelernt, mit dem Wind, dem Meer, der Salzluft, den harten Gräsern klarzukommen.

Sie sind nicht so zart wie ich. Sie haben gelernt mehr auszuhalten. Und es ist doch so: Wenn meine Artgenossinnen das können, dann müsste ich das ja auch schaffen. Denn ich habe verstanden, dass es kein Zurück gibt.

Nicht nur das Schaf – auch wir müssen das nun verstehen. Wir befinden uns in einer anderen Wirklichkeit. Und es ist in der Tat schwer das zu verstehen, weil es so lange so anders war. Es ist wie bei den Schafen: Natürlich wussten wir immer, dass viele Menschen auf der Erde sehr viel weniger gemütlich leben als wir – und auch viel, viel weniger versorgt und behütet.

Aber das schien für uns halt nie zu gelten. Wir hatten die sogenannte Friedens-Dividende: Ausgaben für Militär und Sicherheit konnten auf sehr niedrigem Niveau gehalten werden, also gab es Geld für alles Mögliche Andere. Und jetzt wachen wir auf, reiben uns die Augen und stellen fest: Das war’s vorerst mit der Friedens-Dividende. Was andere Menschen in anderen Teilen der Welt schon lange erleben, das gilt nun auch für uns. Und wir sind gezwungen, Dinge für möglich zu halten. DAS ist ein großer Teil der Veränderung: Wir müssen mit Ereignissen rechnen, die wir nie auf dem Schirm hatten.

Auch in der Kirche sind wir seit einiger Zeit damit beschäftigt, Dinge für möglich zu halten, die wir vorher nicht auf dem Schirm hatten. Die Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt lehrt uns das schon eine ganze Weile. Es ist schockierend, es ist verstörend. Es ist manchmal schwer zu glauben. Und EIN Faktor, der das alles möglich machte, das ist die Unfähigkeit sich Dinge vorstellen zu können. Von dieser Unfähigkeit haben die Täter profitiert. Es ist bitter das zu sehen.

Die Unfähigkeit, sich das Schreckliche vorzustellen – die hat Viele naiv sein lassen. Ich kann die Menschen in den Presbyterien verstehen, die vielleicht ein Gerücht über einen der Ihren hörten. Oder über den Jugendleiter. Und die sagten: Das kann ich mir nicht vorstellen. Oder: Aber ich kenne den doch. Der war in meiner Schulklasse. Oder: Das ist doch mein Nachbar, mein Fußballkumpel, der ist in unserem Verein. Das Problem ist nur: Von dieser mangelnden Vorstellung haben die Täter profitiert.

Und so ist dieser ganze Prozess innerhalb unserer Kirche eine große Desillusionierung. Wir glaubten, eine große Familie zu sein – im besten Sinn des Wortes – und wir stellen fest: Genauso, wie es in ganz normalen Familien Monster gibt und genauso, wie in scheinbar glücklichen Familien massive Gewalt verübt wird – genauso ist es bei uns in der Kirche.

Auch wir haben Schwester und Brüder unter uns, die Monster sind. Und es gibt noch eine sehr schlimme Gemeinsamkeit: Sowohl in Familien als auch in Gemeinden werden DIE zum Monster, denen andere, schutzbedürftige Menschen, zur Fürsorge anvertraut sind.

Ich erinnere mich an einen Vortrag, den ich vor mehr als 20 Jahren in einer Mülheimer Frauenhilfe hielt – und zwar schon damals über sexuelle Gewalt in der Kirche. Die Frauen waren schockiert. Sie sagten: Also, bei uns gibt es das ganz bestimmt nicht. Und meine Antwort war: Sehen Sie, und eben deshalb wären Sie für mich als Täter die ideale Gemeinde – weil Sie es nicht für möglich halten. Genau das würde Ihre Wahrnehmung beeinflussen, und diese Ihre mangelhafte Wahrnehmung wäre MEIN Schutz. Ich könnte mich darauf verlassen, dass Sie es nicht für möglich halten – selbst dann noch, wenn es Hinweise gäbe.

Das Böse profitiert leider immer davon, dass wir es nicht für möglich halten. Das ist eine Schutzfunktion unserer Seele. Wir können nicht andauernd mit dem Schlimmsten rechnen. Wir brauchen das Gefühl, sicher zu sein. Aber es kann zur Gefahr werden, wo wir aus diesem Sicherheitsbedürfnis heraus alles ausblenden, woran wir eigentlich erkennen KÖNNTEN: Hier geht es nicht um eine Meinungsverschiedenheit, hier geht es um die grundlegende Entscheidung zwischen Gut und Böse. Es geht NICHT um einen Konflikt, wo man sagen kann: Das hat zwei Seiten. Das tun wir besonders in der Kirche gerne: Erst mal beide Seiten hören. Einen Kompromiss schließen. Bloß nicht Position beziehen. Aber es geht hier um Verbrechen. Es gibt nicht zwei Seiten, es gibt Opfer und es gibt Täter. Es geht um Unrecht – und das ist nicht verhandelbar.

Und deshalb erwachen wir sowohl in der Kirche als auch als Gesellschaft gerade aus der Illusion, dass es gut ist oder doch wenigstens am Ende gut wird. Wir KONNTEN uns Vieles nicht vorstellen, und wir WOLLTEN es uns nicht vorstellen. Und finden uns wieder wie das Schaf: in einem neuen, rauen Klima. Die Schutzmauern zerbröseln. Wir werden lernen müssen, in diesem neuen Klima zu bestehen. Vielleicht ehrlicher in die Welt zu blicken. Zu verstehen: Nur, weil wir uns etwas nicht vorstellen mögen, heißt das nicht, dass es nicht längst existiert.

Und so geht es in dieser Fastenzeit 2025 nicht um den Verzicht auf Schokolade, Alkohol, Autofahren, Klamotten kaufen oder um einen Flugurlaub. Das waren die Anforderungen einer anderen Zeit. Natürlich ist es nach wie vor sinnvoll, auf etwas zu verzichten. Das Klima dankt es uns immer, unsere Gesundheit auch. Aber viel grundsätzlicher ist die Fastenzeit 2025 ein Teil der viel beschworenen Zeitenwende. Denn es ergeht uns wie dem Schaf:

Es waren gute Zeiten auf der gemütlichen, beschützten Weide. Aber das ist vorbei. Wir erleben jetzt, was andere schon lange oder schon immer hatten: unsichere Zeiten, eine ungewisse Zukunft – böse Mächte, die bedrohlich wachsen. Lebensumstände, die übrigens, geschichtlich gesehen, eher den Normallfall als die Ausnahme darstellen. Die letzten 80 Jahre waren für uns in Mitteleuropa ein Glücksfall. Ein Blick in die Bibel zeigt: Meistens war es anders.

Im Januar habe ich einen Vortrag über die Johannes-Apokalypse gehört, die sogenannte Offenbarung. Sie enthält düstere Bilder, bedrohliche Szenen, Untergangs-Szenarien. Am Ende, so sagt die Apokalypse, wird es gut. Aber vorher ganz schlimm. Und das wird ausführlich beschrieben: Es gibt Monster, böse Gestalten, Vernichtung. In schrecklichen Zeiten war die Apokalypse ein Trost für viele Menschen: Halte nur aus, egal wie schlimm es ist – am Ende kommt die Befreiung.

Der Theologe, der den Vortrag hielt, sagte: In Europa können die Menschen schon seit Jahrzehnten mit diesem biblischen Buch nichts mehr anfangen. Seine Analyse, warum das so ist: Es geht uns zu gut. Das Buch ist nicht für Menschen wie uns geschrieben. In Afrika ist das Buch sehr beliebt. Und in vielen asiatischen Kirchen ebenfalls. Vieles in der Bibel ist für Menschen geschrieben, die es schwer haben. Die in Unfreiheit leben. Mit Bedrohung. Vielleicht nähern wir uns dem nun wieder an.

Denn wir müssen uns an neue Verhältnisse gewöhnen. Auch an neue Zumutungen. Es kommen nun Zeiten der Bewährung. Das kennen wir nicht. Und im Wahlkampf wurde uns das natürlich nicht gesagt. Denn Parteien wollen gewählt werden. Und wenn eine Partei Zumutungen aufzählt, dann wird sie nicht gewählt. Aber die Zumutungen liegen vor uns.

Sie sind weder aus der Portokasse zu bezahlen – noch ist es möglich, sich diesen Zumutungen zu stellen, ohne dass sich unser Leben ändert. Das Schaf sagt uns: Das Motto der Fastenzeit geht dieses Jahr anders als sonst. Nicht „eigentlich bin ich ganz anders“ – nein, eigentlich musst du jetzt LERNEN anders zu sein. Und du kannst nicht mehr sagen: „Ich komme so selten dazu anders zu sein“. Du musst es immer öfter. Wir werden uns daran gewöhnen, wir werden es lernen, so wie andere vor uns. Wir werden es lernen – mit Gottes Hilfe. Denn die Zusage gilt: Ich bin bei euch, alle Tage, bis an das Ende der Welt.

Elisabeth Müller
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Beitragsbild: Fastenaktion „7 Wochen anders leben“ 2025 von Andere Zeiten e.V.; © Guenther Schwering, vielen Dank!

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