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„Du bist ein Uruguayer!“ | Kirche und Heimat #1

Im letzten Jahr habe ich mit meiner Familie eine Heimreise in mein Geburtsland Uruguay unternommen. Nach 50 Jahren und 15.000 Kilometern Wegstrecke kamen wir in Paysandú, einer Provinzstadt am Grenzfluss Uruguay, in der Evangelisch Lutherischen Gemeinde an.

Von der ersten Stunde an fühlte es sich wie eine Heimkehr an. Wir wurden herzlich von Leuten empfangen, die mein Vater vor 50 Jahren konfirmiert hatte. Der jetzige Pfarrer Ruben führte uns in das Pfarrhaus, in dem ich vor fast 60 Jahren das Licht der Welt erblickte. Er holte die Kirchenbücher hervor, in dem alle Taufen handschriftlich eingetragen waren. Wir tranken das Nationalgetränk Matte-Tee, das mich meine alte Heimat schmecken ließ. Kurze Zeit später meldeten sich ein Schulfreund, meine Klavierlehrerin und viele andere wieder vertraute Menschen. Es gab viel zu erzählen, viel Assado zu essen und vor allem den „eingeschworenen“ Hinweis „Du bist ein Uruguayer“.

Meine Kindheit, die damit verbundenen Gefühle und Erlebnisse wurden nach so langer Zeit wach und lebendig. Vergangene und zurückgelegte Heimat wurde hautnah wieder erlebbar. Mit dem Umzug der dort gegründeten Familie nach Deutschland Ende der 60iger Jahre wurde ich nicht heimatlos, aber ich hatte lange Zeit Heimweh nach dem Heimatland und dem Zuhause meiner Kindheit.

Im Konfirmandenunterricht sprachen wir über die Bedeutung von Heimat. Die Jugendlichen stellten überwiegend fest, dass Heimat nicht nur ein Ort ist, in dem sie geboren und aufgewachsen sind. Sie fanden Heimat überall dort, wo Beziehungen und Gemeinschaft mit der Familie und Freunden erlebt werden kann. Eine Konfirmandin erzählte, dass sie in zwei Heimaten lebt, weil ein Teil ihrer Familie und Verwandten in Deutschland und der andere Teil in Ghana lebt. Wir wollen das Thema vertiefen und die Ergebnisse im Vorstellungsgottesdienst am 18. März 2018 vorstellen.

Heimat ist heute ein fragwürdiger Begriff geworden, ein umstrittener, ein nicht mehr auf den einen Punkt zu bringender. Wissenschaftlich gestützte Befragungen zeigen: Die meisten Menschen verbinden mit Heimat den sozialen Nahraum, das heißt den eigenen Wohnort (68%) oder Herkunftsort (55%). Trotz gestiegener Mobilität wohnen nach wie vor mehr als 50% der Deutschen im Umkreis von bis zu 40 Km zu ihrem Herkunftsort. Die Heimatgefühle gegenüber dem eigenen Bundesland, Deutschland und Europa nehmen mit der Entfernung erkennbar ab. Die Heimatbindung wird mit zunehmendem Alter stärker: 89% der über 70-Jährigen bezeichnen ihre Heimatbindung als stark im Gegensatz zu nur 30% bei den 25- bis 34-Jährigen. Die meisten Menschen verbinden Heimat mit positiven Gefühlen wie Geborgenheit, Wohlbefinden, Zugehörigkeit, Sicherheit und dem Vorhandensein enger sozialer Kontakte 59%, Familie 47%, Freunde und Bekannte 31%. Allerdings nennen viele Befragte mehrere Orte als Heimat und 53% der Befragten stimmen der Aussage zu: „Man kann auch Heimatgefühl für eine Region, ein Land entwickeln, wo man sich gern aufhält, aber nicht dauerhaft leben und arbeiten möchte.“

Man kann festhalten: Sich beheimaten oder Heimat finden heißt, Beziehungen zu Orten, vor allem aber zu den dort lebenden Menschen aufzubauen. Weiterhin bedeutet es, diese Beziehungen seinen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten und damit Verantwortung für sich selbst, aber auch für Orte und Menschen zu übernehmen. Nur so geben sie dem Menschen Identität, geben seinem Dasein Sinn und erzeugen so Emotionen, Bindungen und schaffen persönliche Geschichten.

In der heutigen Zeit wird oft über Kirchenschließungen geredet. Die Gründe dafür sind bekannt. Doch Gemeindegliedern, Bürgerinnen und Bürgern sind ihre Kirchen im Quartier oder Stadtteil ein Stück Heimat. Sie sind Orte der Erinnerung an erlebte Rituale wie Taufe, Trauung und Konfirmation. Kirchen sind Orte der Begegnung für Kirchengemeinde und Bürgergemeinde. Über Jahrhunderte hindurch wurden hier religiöse und humanitäre Werte vermittelt. Kirchen sind oft Mittelpunkt eines Stadtteils, sein Herz. Bei Kirchenschließungen wird oft die Gemeinde zerstört. Wenn es gut geht, schließen sich Gemeindemitglieder anderen Kirchengemeinden an. Es kann aber auch passieren, dass sie sich ganz verabschieden von „Kirche“. Damit geht auch ein Stück Heimat verloren.

Die Bibel ist ein Erzählbuch von Heimatgeschichten, die von Heimatverlust und Heimatlosigkeit, aber auch von Beheimatung erzählen. Die Bibel beginnt mit einem doppelten Verlust der Heimat. Zuerst werden Adam und Eva aus dem Garten Eden verjagt und die Menschen finden ihre neue Heimat in der Welt. Sprachen und Länder entstehen. Aus dieser neuen Ordnung wird Abraham direkt wieder herausgerufen: „Der Herr sprach zu Abraham: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich Dir zeigen werde.“ (1. Mose 12,1) Eine größere „Entheimatung“ kann man sich kaum vorstellen. Gott verlangt von Abraham, dass er alles aufgibt: Die soziale Struktur der Verwandtschaft, die Vertrautheit des Vaterhauses und der Region. Warum tut Abraham das? Gott verspricht eine neue Heimat. Und Abraham vertraut Gott. Das ist weder logisch noch beweisbar, er tut es einfach.

Jesus aus Nazareth hatte auch keine Heimat auf dieser Erde. Sein Leben war verletzlich und voller Risiken. Es ist eine neue Heimat, die Jesus findet und erfährt, eine Heimat des Vertrauens auf Gott und sein Reich, das kommt: „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe.“ (Matthäus 4,17) Deshalb sind Menschen in der Nachfolge Jesu an vielen Orten beheimatet. Zum Heimatort kann alles werden, wo Gemeinschaft geschieht, unter Menschen und mit Gott. Aber diese Heimatorte bleiben vorübergehend, denn wir sind auf der Durchreise in dieser Welt.

Werner Sonnenberg

2 Gedanken zu „„Du bist ein Uruguayer!“ | Kirche und Heimat #1

  1. Als Heimatvertriebener aus der Neumark, jetzt Polen, sage ich mit den Römern: ubi bene, ibi patria = wo es gut ist mit den Beziehungen und“die Knete stimmt“, da ist deine Heimat. Für mich ist das heute Heisingen in Europa. Ich danke Ihnen für dieses persönliche Nachdenken.

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