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Die Vaterunser-Glocke

Lange Zeit konnten die Glocken der Christuskirche in Oberhausen nicht geläutet werden. Der Turm war nicht mehr stabil genug. Nun, nach einer Grundrenovierung, ist das Läuten bald wieder möglich. Deshalb wurde eine neue Läuteordnung erarbeitet. Weil ich zur Christuskirchen-Gemeinde gehöre, war ich dabei. Es wurde sehr sorgfältig überlegt, wann soll, mit welchen Glocken, wie lange geläutet werden? Ist es noch zeitgemäß, den Mittag und den Abend besonders anzuzeigen? Und wie steht es mit dem Läuten Silvester und vor dem Ostersonntag um Mitternacht?

Wir haben das alles gewissenhaft abgearbeitet. Zwischendurch allerdings stellte ich mir die Frage, wofür, das heißt: für wen wir das eigentlich machen? Wer hört das noch gerne? Die, die sich zur Gemeinde zugehörig fühlen, bleiben der Gemeinschaft sowieso verbunden. Brauchen die noch den Glockenklang mit seiner besonderen Botschaft? Und was ist mit den anderen?

Was ist vom Ursprung des Läutens geblieben? Es ist ja eine besondere Form der Verkündigung. Besonders deutlich wird das beim Läuten während des Vaterunsers am Ende eines jeden Gottesdienstes. Die sieben Glockenanschläge sind ja die Mitverkündigung der sieben Vaterunser-Bitten. Und das Läuten zu Mitternacht vor dem Ostersonntag verkündet Gottes Lebensversprechen über alles Leid der Welt.

Die Vaterunser-Glocke, von der oben die Rede war, erklingt siebenmal. Die Klänge zwei und drei beziehen sich auf die Bitten „dein Reich komme“ und „dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden“. Wir beten normalerweise schnell darüber hinweg, denn danach kommt die Bitte um das tägliche Brot, und damit können wir mehr anfangen. Das ist konkret und fassbar. Aber wie ist das mit den anderen beiden Bitten? Gottes Reich und sein Wille – Gott greift, das wissen wir, nicht direkt ein, sondern nur über unsere Einsicht, unsere Tatkraft und über unsere Hände.

Auch das wissen wir: Gottes Wille und das Kommen seines Reiches muss man ins Konkrete übersetzten. Und das heißt in die Themen Autofahren, Fliegen, Kreuzfahrten machen, Plastik vermeiden, Energieverbrauch, Herstellungsketten für Textilien erforschen, Nachbarschaftshilfe anbieten und so weiter. Gott hat uns die Erde als seine Schöpfung anvertraut. Das ist mein Glaube. Aber was machen wir daraus? Sind wir als Schöpfungspfleger erkennbar? Unterscheiden wir uns von denen, die diese Basis nicht haben? Oder sind wir eine schöpfungs-pflegende Ingroup, die sich selbst genügt?

Im Alltag sind wir weithin als Christen nicht erkennbar. Wir sind Bürger wie die anderen auch. Auch die kirchliche Hierarchie ist nicht erkennbar. Hört man etwas von der Superintendentur und der Kreissynode, der Landeskirchenleitung und ihrem Präses oder der Evangelischen Kirche in Deutschland, der EKD, und ihrem Präses? Gibt es irgendwelche Ideen von irgendeiner Seite, die in die gesellschaftliche Debatte eingreifen? Am Ort oder überregional? Unser Christentum ist selbstgenügsam, nach innen gekehrt und gesellschaftlich unsichtbar. Wenn es uns nicht gäbe, würden wir vermisst?

Wenn das so bleibt mit unserer Nicht-Wahrnehmbarkeit, verschwindet unsere „Lehre“ weithin und es wird leer in unseren Kirchen, noch leerer als es jetzt schon ist.

Wahrscheinlich wird eine kleine, aber sehr lebendige Gemeinde übrigbleiben. So, wie das in den Niederlanden, in der Schweiz oder in manchen Gegenden in Frankreich der Fall ist. Braucht man dann noch die großen Kirchen? Wahrscheinlich nicht. Von den Domen werden noch die Glocken läuten. Als Beitrag zur kulturellen Vielfalt, zugleich aber als Weckruf und Ermutigung für die, die damit noch immer eine Art der Verkündigung von Gottes Schöpferfürsorge erkennen. Denn „er“, so hören wir das in jedem Gottesdienst, „lässt nicht fallen das Werk seiner Hände“.

Hans Erlinger