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Der Apostel Paulus war ein Körnerpicker wie wir alle

„Der Apostel Paulus war ein Körnerpicker wie wir alle“ – was soll das heißen? Ein einziges Mal wird Paulus im Neuen Testament so genannt, „Körnerpicker“, griechisch spermológos. Das berichtet oder denkt sich der Evangelist Lukas, des Apostels erster Biograph, aus und erzählt lebendig davon in seiner Apostelgeschichte, im Kapitel 17. Davon will ich jetzt berichten, so kurz es geht.

Als der Apostel Paulus in die berühmte Stadt Athen gekommen war, um hier Jesus Christus zu verkündigen und wo sein missionarischer Erfolg fast gleich Null gewesen ist, versäumte Lukas die Gelegenheit nicht, die Kenntnisse des Apostels in der jüdischen und hellenistischen Tradition auf diesem besonderen Terrain auszubreiten. Und der Evangelist weiß, warum! Auf der Agorá, dem Forum, dem Markt Athens, stellten weise Häupter wie Sokrates und andere ihre philosophischen Fragen und versuchten die Bürger zum Nachdenken zu bringen.

Auf dem 115 Meter hohen Areopag-Felsen versammelte sich seit Jahrhunderten der Rat der Stadt, der zu Gericht saß. Er hieß der Rat vom Ares-Hügel. Von der Volksversammlung Ekklesía – dieses Wort übernahm später die Kirche für Gemeinde – bekam der Areopag eine hohe Gerichtsbarkeit.

Auf diesem berühmten Felshügel wollten ihn die neugierigen Philosophen hören, nicht auf der quirligen Agorá. Wenn man heute hier steht, genießt man einen überwältigenden Blick hinüber zum Parthenon. Das kann am Apostel auch nicht so einfach vorübergegangen sein. Jahrhunderte früher redete der große Tragiker Sophokles seine Stadt preisend an: „Du unter allen Städten glorreichste, Athen.“ (Oid.Kol.108).

Der Apostel war nicht weniger neugierig als die geistige Elite in Athen. Seine Neugier findet dann auch eine wunderbare Anknüpfung für seine Predigt. Er hat in der Stadt einen Altar gefunden, auf dem die Aufschrift steht: „Dem unbekannten Gott“. Paulus steht mitten auf dem Areopag, nimmt seine Rednerhaltung ein und beginnt:

„Ihr Männer von Athen“ – nicht „Ihr Brüder“; denn er redet ja nicht zu Juden, Gottesfürchtigen oder Christen. Seine Hörer sind Philosophen oder solche, die sich dafürhalten. In seiner Zeit gab eine traditionsreiche, popularphilosophische Richtung, die hieß „die Stoá“, das heißt „die Halle“. Viele von ihnen waren davon nicht unberührt. Er schmeichelt ihnen, indem er sie „religiös, ja fromm“ nennt. Was die Athener unwissend verehren, das wird er ihnen – ganz raffiniert – jetzt bekannt machen, verkündigen. In der Altar-Inschrift kommt ja geradezu klassisch der Polytheismus zum Ausdruck.

Ihr kennt den einen, den einzigen, den wahren Gott eben nicht, er ist euch unbekannt, diesen werde ich euch jetzt bekannt machen. Wie ein dickes Plakat hält er ihnen den folgenden Satz entgegen: Dieser einzige Gott ist der Schöpfer des Kosmos, der Welt. Er wohnt nicht in einem Tempel wie dem Parthenon, den ihr gegenüber seht, oder in anderen, von Menschen gemachten Tempeln. Menschen können ihm keine Wohnung bereiten, denn ER hat ja alles gemacht. Dieser Schöpfergott braucht keine Opfer. Was man ihm geben kann, sind Dank und Gebet.

Paulus fährt fort und behauptet in vollster Überzeugung der jüdischchristlichen Überlieferung: ER schuf aus einem Menschen die ganze Menschheit. Sie soll die Erde bewohnen und Gott suchen. Das gesamte menschliche Leben geht auf diesen Schöpfergott zurück. Ich höre bei mir das Aufstöhnen der philosophischen Athener Elite. Doch damit noch lange nicht genug.

Und jetzt geht er hellenistisch in die Vollen. Er gehört ja auch zur hochgebildeten Elite, und er bemüht im nächsten Schachzug die Dichter. Aber er zitiert geschickt griechische Autoren ohne deren Namen zu nennen. Sie sprechen von einer Gottes-Verwandtschaft der Menschen: „Wir sind seines Geschlechts, in ihm leben wir, bewegen wir uns, ihm gehören wir zu“ (vgl. Vers 28). Das hören die Männer von Athen gern.

Paulus denkt aber nicht primär an die griechischen Dichter, sondern nur daran, dass wir Menschen „von Gott als Abbild Gottes geschaffen worden sind“ (vgl. 1. Mose 1,26f.; Psalm 8,6f.). Unser Leben ist uns von Gott, dem Schöpfer gegeben. Dadurch hat jeder Mensch seine Würde. Und jetzt zieht er zwei gewichtige Konklusionen, Folgerungen.

Die erste: Das Heidentum beurteilt er vollends negativ. Alle Götterbilder und anderen Bilder von Heroen usw. in Athen sind verwerflich. Hier spricht der Jude Paulus. Wir können und dürfen den Schöpfer nicht mit Hilfe von etwas Geschaffenen abbilden und anbeten. Wir sollen nicht denken, das Göttliche sei einem Gebilde menschlicher Kunstfertigkeit oder Erfindung ähnlich. Eine schärfere Absage an die gesamte Heidenwelt, die der jüdischen Gesetzgebung entspringt (vgl. 2. Mose 20,1ff.), kann es nicht geben. Sie hat Konsequenzen für Jahrhunderte. Aber der einzige und allmächtige Schöpfergott hat bisher diese Abgötterei nicht gerichtet, er hat vielmehr geduldig die Zeiten der Unwissenheit übersehen. Doch jetzt gebietet er den Menschen, dass alle umkehren sollen (vgl. Vers 30). Dafür setzt Gott ein furchteinflößendes Zeichen: das Endgericht.

Die zweite: Gott befiehlt, dass sich alle Menschen bekehren sollen. Der Gerichtsgedanke ist den Griechen keineswegs unbekannt, aber sie nehmen ihn nicht richtig ernst. Ganz im Gegensatz zu Paulus. Wir können uns den Apostel auf dem Areopag nicht ernst genug vorstellen. Er war ein gewaltiger Prediger. Niemand hat ihm einen Sprach- oder Sprechfehler nachweisen können. Gott wird den Erdkreis, die Ökumene steht hier im griechischen Text, mit Gerechtigkeit richten (vgl. Vers 31). Zum Richter hat er einen Mann bestimmt, dessen Namen Jesus Christus er hier nicht nennt. Doch diesen hat der Allmächtige dadurch gegenüber allen ins Recht gesetzt, dass er ihn von den Toten auferweckt hat.

„Auferstehung der Toten“ – das war der Höhepunkt. Unglaublich, töricht und frech, alles und noch mehr. Hier muss Schluss sein. Da bleibt uns nur der Spott als letztes Gegenmittel. Widerwillen ergriff die einen. Die Gemäßigteren wollten ein anderes Mal davon hören. Paulus verlässt den Ares-Hügel. Nur etwas dadurch getröstet, dass ein Mann namens Dionysios und eine Frau namens Damaris und wenige andere sich haben bekehren lassen. Sie sind die Ausnahmen von der Regel in Athen. Vor dem Predigt-Geschehen auf dem Areopag hatte der Apostel schon Tag für Tag in den Synagogen seinen Brüdern, den Juden und den Gottesfürchtigen von den Nichtjuden, das heißt den Monotheisten unter den Heiden, das Evangelium verkündigt.

Doch dann, auf der Agorá, dem Forum, dem Marktplatz, dem Kommunikations-Ort der Vielen überall, da passierte es: da begann der Spott der Philosophen. Doch auch die Verspottung hat Tradition in diesem berühmten Ort der Philosophie. Der Dichter Aristophanes hatte in seiner Komödie die „Wolken“ seinen Chor auf den Philosophen Sokrates, der sommers und winters auf der Agorá anzutreffen war, angesetzt und als „Erhabenheits-Schwätzer“ verspotten lassen.

Jahrhunderte später setzen die stoischen und epikuräischen Philosophen nun selbst an und verspotten den Apostel Paulus lauthals: „Was will denn wohl dieser Körnerpicker (spermológos) hier sagen?“ (Vers 18). Da steht das einmalige, hochinteressante Wort. Eigentlich bedeutet es Saatkrähe, man kann auch an einen Hahn zwischen den Hühnern denken. Die Übersetzer haben sich in originellen Übertragungen zu übertreffen versucht. Ganz schief liegt der hochgeschätzte Reformator: Lotterbube. In späterer Zeit: Schlagwortjäger, Klugschwätzer, Quatschkopf oder Angeber. Ich selbst bevorzuge „Körnerpicker“ und begründe das auch sofort. Ich führe uns auch ins Nachdenken darüber. Denn das Spottwort trifft auf eine tiefe, menschliche Wahrheit. Ich behaupte: Wir alle sind Körnerpicker.

Bei Paulus erkennen die spottenden Philosophen: da kommt ein jüdischer Wanderprediger und will uns zu unseren Gottheiten noch eine neue Gottheit mit Namen Jesus Christus einreden. Er hat sich offenbar aus der reichen jüdischen Tradition ein ganz besonderes Korn herausgepickt. Wie schlau!

Denken wir nun an uns. Welche Körner haben wir uns aus dem reichen „Hühnerhof“ der Natur und Geschichte herausgepickt? Jeder mag da an seinen eigenen Bildungsweg und seine Begabung denken. Das ist bei allen vollkommen verschieden und unterschiedlich. Hatten wir eine christliche oder weniger christliche oder gar keine christliche Sozialisation? Was hat uns interessiert und was hat uns weniger interessiert? Hat uns mehr die Natur oder die Geschichte fasziniert?

Alles ist Geschichte. Welche Menschen, Angehörige oder Nichtangehörige, welche Lehrinnen oder Lehrer, an welchem Bildungsort auch immer, haben uns nachhaltig geprägt? Waren es unsere Eltern oder Großeltern? Viele, für jeden und jede verschiedene und doch gleichartige Fragen und Antworten.

Ich beende mein Nachdenken, von Lukas, Paulus und Athen provoziert, mit einer Aufforderung und Bitte aus dem letzten Kapitel des Hebräerbriefs (Kapitel 13,7): „Gedenkt an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach! Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.“

Eckhard Schendel