Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden. (Jesaja 40,31)
Manchmal scheinen die vorgeschlagenen Bibeltexte für die jeweiligen Sonntage gerade jetzt, inmitten der Coronazeit, besonders in unsere Zeit zu sprechen. Der Text für den Sonntag Ende April, an dem wir unseren vierten Telefongottesdienst gefeiert haben, war so einer. Es ist ein Text für Krisenzeiten.
Das Volk Israel sitzt im Exil in Babylon. Der Tempel in Jerusalem ist zerstört. Die babylonischen Herrscher sind an der Macht. Sie verehren ihre eigenen Götter, sie bestimmen, was erlaubt ist und was nicht. Sehnsucht nach zu Hause. Wann wird es endlich wieder so sein, wie es war? Was ist mit unserem Gott? Lässt er uns etwa allein? Gibt es ihn vielleicht gar nicht? Oder ist er einfach nur schwächer als die Götter der Herrscher? Der Text ist ein Text für Krisenzeiten. Ein Text, der dich nimmt und schüttelt: Da, schau hin! Siehst du nicht?
Und es ist ein Text, der dir Mut machen soll. Ein Gotteswort, das dich hoch heben will in die Luft, auf dass du dich leicht fühlst. Doch lest selbst: Beim Propheten Jesaja im 40. Kapitel heißt es:
Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.
Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: „Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber“? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
(Jesaja 40,26-31)
Es ist zu Hause unser Abendritual, erst eine Geschichte, dann ein Abendlied. Und das Repertoire dieser Abendlieder ist nicht groß. Zwei der wenigen Lieder führen die Hitliste an: „Der Mond ist aufgegangen“ und „Weißt du, wieviel Sternlein stehen“. Im letzten heißt es:
Weißt du, wieviel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt? Weißt du, wieviel Wolken gehen weithin über alle Welt? Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet an der ganzen großen Zahl, an der ganzen großen Zahl.
Ähnlich klingen die Worte unseres Textes. Hebt eure Augen in den Himmel! Seht doch, was Gott alles geschaffen hat. Und nichts und niemand geht diesem Gott verloren. Ganz im Gegenteil, Gott ruft die Geschöpfe ins Leben, „Kennt auch dich und hat dich lieb!“. Der Prophetentext verweist in aller Not und Sorge um das eigene Leben, in allem Glaubenszweifel, auf die wundersame Schöpferkraft Gottes: Sieh doch! Schau dich um! Kraftvoll grünt und blüht es!
Und ich muss sagen, im Moment ist genau das ein Trost. Draußen sein in der Natur, all das Leben in den Büschen und Bäumen zu hören und zu sehen. All die Farbenpracht und all die Kraft, die sich in den vielen Pflanzen zeigt. Welch eine Freude, wenn die selbstgezogenen Tomatenpflänzchen wachsen, wenn im Schrebergarten der Freundin der Rhabarber reif zum Ernten ist. Die Spazierwege sind voller Menschen, die mitten in Gottes Schöpfung für eine Weile aufatmen. Sieh hin und lass es Dir gut tun!
Doch kaum zu Hause in den plötzlich so engen vier Wänden, da fällt einem die Decke auf den Kopf. Die Israeliten damals sehen schwarz. „Der Herr kümmert sich nicht um uns; unser Gott lässt es zu, dass uns Unrecht geschieht.“ So ein Elend, das Leben in der Verbannung. Auch das muss mal raus!
Verflixte Kontaktbeschränkungen. All die Einsamkeit, die auch ein Telefon nicht allein überbrücken kann. Wann dürfen wir uns endlich wieder in den Armen liegen? Wie sollen wir all die Geburtstage und anderen Feiern nachholen? Wie lange noch müssen wir ausharren wie Gefangene? Wie lange noch liegen die Nerven blank, weil wir in den Familien zu eng aufeinander hocken? Wann können wir endlich wieder Pläne schmieden? Wann werden wir wieder frei sein zu reisen? Auch unsere Rückkehr aus dem Exil verzögert sich. Unmut und Ungeduld wachsen. Es ist zum Müdewerden.
Sie sind uns seltsam nah, die Menschen damals, verbannt aus ihrer Heimat umgesiedelt in die Fremde. Auch sie voller banger Fragen, voller Ungeduld. Die Müden damals in der Fremde, sie sollen ihren Blick heben. Nicht den Kopf in den Sand, sondern Kopf hoch! Sieh, dein Gott lässt dich nicht allein, auch nicht in der Fremde. Dein Gott wird nicht müde noch matt.
Und wie es draußen grünt und blüht, so wächst es auch zwischen den Menschen. Neue Ideen, neue Kraft macht sich breit. Vor Wochen noch Ratlosigkeit wie wir Gottesdienste feiern können trotz geschlossener Kirchen, doch nun allerorten gute Ideen, kreative Wege und neue Kraft. Uns sind Flügel gewachsen.
Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Das ist die Botschaft an die Israeliten in der Krise. Das ist das biblische Wort für heute!
Gottes gutes Wort will dich hochheben in die Luft, dass du dich leicht fühlst, dass du frei wirst von dem, was dich beschwert, dass dir Flügel wachsen, immer wieder neu.
Amen, so sei es!
Nele Winkel