1. Vielleicht geht es Ihnen wie mir: Ich bin bass erstaunt, wie viel zurzeit vom „Abendland“, ja vom „christlichen Abendland“ die Rede ist. Grund genug, ein wenig Spurensuche zu betreiben. Ich möchte damit zur Klärung für mich – und hoffentlich auch für Sie – beitragen.
2. Fangen wir beim Wort an. „Abendland“ ist das Pendant zum Morgenland. Wir befinden uns im Kirchenjahr noch in der Epiphanias-Zeit. Ihr Grundtext ist die Geschichte von den drei Weisen aus dem Morgenland. Diese Benennung haben wir Martin Luthers Übersetzung von 1522 zu verdanken. Matthäus 2,1-2 lautet bei ihm: „Als Jesus geboren war in Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten.“
Das Wort, das mit Morgenland übersetzt ist, heißt im Griechischen „anatolä“ und meint das Aufgehen (der Sonne), übertragen somit also den Osten. Deshalb wird auch übersetzt: „Als aber in den Tagen des Königs Herodes in Bethlehem in Judäa geboren wurde, siehe, da kamen Magier von Osten nach Jerusalem und sagten: Wo ist der neugeborene Judenkönig? Wir haben nämlich seinen Stern beim Aufgehen gesehen und kamen, um ihm zu huldigen“ (Übersetzung aus dem Matthäus-Kommentar von Ulrich Luz).
1529 ist der Begriff „Abendland“ anscheinend das erste Mal nachzuweisen. Der Straßburger Humanist und Historiker Kaspar Hedio erfand ihn als Gegenbegriff zum „Morgenland“ Luthers. Er sprach vom „Occident / das ist / die Abendlender“. Man beachte den Plural! „Abendland“ bezeichnete bei ihm die Länder in der westlichen Hälfte des Römischen Reiches nach dessen Aufteilung in ein weströmisches und ein oströmisches Reich.
In diesem Sinne blieb das Wort bis ins 19. Jahrhundert hinein den Historikern vorbehalten. Erst die Romantik entdeckte und deutete den Begriff neu, sprach aber bereits alternativ von „Europa“. Das Ende des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ läutete somit ironischer weise die Einführung des Abendlandes als ideologischem Kampfwort für eine christliche bzw. europäische Politik ein. Die behauptete vermeintliche mittelalterlich-christliche Staateneinheit der Vergangenheit wurde zum Ideal für die Zukunft. Dies Verständnis wurde vor allem von katholischer Seite vorgetragen, was beim Anspruch auf die kirchliche Einheit naheliegt. „Abendland“ war dabei immer ein rein deutscher Begriff. Er wird in anderen Sprachen als „Okzident“ zurückübersetzt. Und der Titel des Buches „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler lautete auf Englisch: „Decline of the West“.
3. Ich mache bei der Gegenwart in Dresden weiter. Es irritiert mich, dass Menschen dort das Abendland gegen die Islamisierung verteidigen wollen! Statistisch gesehen leben rund 80.000 Protestanten in Dresden, das sind rund 15% der Bevölkerung. Etwa 4,5% katholische Christen werden gezählt. Rund 800 Juden leben in der Stadt und inzwischen gibt es wohl drei Moscheen mit rund 800 Menschen, die an den Freitagsgebeten teilnehmen. 80% der Bevölkerung gehören keiner Religionsgemeinschaft an. Ganz anders ist das übrigens in Essen, wo es tatsächlich (noch) eine christliche Bevölkerungsmehrheit gibt. Da sind nämlich 27% evangelisch und 38% katholisch.
In einem Beitrag für die WELT hat der Historiker Wolfgang Benz gezeigt, gezeigt, dass mit dem Begriff „Abendland“ vor allem ausgegrenzt wurde, was man für feindlich hielt (Wolfgang Benz: „Abendland“ als Kampfbegriff gegen Byzanz und Islam, in: DIE WELT vom 7. Januar 2015). Sogar die Nazis beriefen sich nach dem Fall von Stalingrad auf die „Rettung des Abendlandes“, aber beileibe nicht nur sie. Je nachdem ging es gegen die Orthodoxie oder die Türken, die Juden, den Kapitalismus oder den Bolschewismus. Oder aktuell bei PEGIDA eben – wieder – um den Islam.
4. Was zeichnete, historisch betrachtet, das vergangene „christliche Abendland“ aus (vgl. Joachim Mehlhausen, Artikel „Abendland“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 4, Bd.1)?
Erstens, eine christlich geprägte Kultur, die sich aus Antike, Christentum und Germanentum über Jahrhunderte immer neu herausgebildet und verändert hat.
Zweitens, ein grundlegendes Spannungsverhältnis von geistlicher und weltlicher Macht. Das war zwar noch keine Gewaltenteilung im heutigen Sinne, doch göttliche und irdische Herrschaft begrenzten und bestätigten sich gegenseitig. Sie begrenzten sich, da dem weltlichen Regiment keine Verfügung über die Sphäre des Religiösen zugestanden wurde. Umgekehrt wurde die Eigenständigkeit der weltlichen Gewalt ebenso anerkannt. Das war und ist schon im „östlichen“, also orthodoxen Christentum anders.
In Verlängerung dieser inneren Logik gehört deshalb, drittens, auch die Förderung emanzipatorischer Bewegungen durch die Betonung der Freiheit des individuellen Gewissens und durch das Eintreten für gesellschaftliche und politische Toleranz als grundlegendes Merkmal zum „Abendland“ dazu.
Das klingt harmlos. Aber vielleicht lässt sich heute wieder besser erahnen, über welch langen Zeiträume und mit welch hohen menschlichen Kosten sich diese Emanzipationsprozesse vollzogen haben. Man denke nur an die Wirren, die die Reformation mit ausgelöst hat oder den Horror des Dreißigjährigen Krieges, der zum Westfälischen Friedensschluss führte. Aber: Ein toleranterer Umgang der verschiedenen Konfessionen bzw. Religionen ist daraus entstanden, hinter den niemand zurück möchte und auf den wir Zeitgenossen wie selbstverständlich aufbauen.
5. So ist in der Gegenwart aus dem „christlichen Abendland“ eine „westliche Wertegemeinschaft“ geworden. Sie war und ist auch grundlegend für den Aufbau eines vereinigten Europa, das die alten geografischen Trennlinien des Abendlandes aufgehoben hat. Der Westen gründet sich – nicht nur in Europa – auf den Werten: Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Volkssouveränität, repräsentative Demokratie, Solidarität mit Schwachen. Das ist immer noch ein „normatives Projekt“, wie der Historiker Heinrich August Winkler zu Recht im Kölner Stadtanzeiger sagte: „Der Westen hat längst aufgehört, die Welt zu dominieren. Er vertritt eine Lebensform und eine politische Kultur unter vielen, und wenn man die Nationen zusammenzählt, die sich als ‚westlich’ verstehen, bilden sie zusammen nur eine kleine Minderheit der Weltbevölkerung. Der Anspruch der unveräußerlichen Menschenrechte aber bleibt ein universaler. Da ihre globale Durchsetzung sich nicht erzwingen lässt, kann der Westen nichts Besseres für sie tun, als sich an seine eigenen Werte zu halten, für sie zu werben und dort, wo es möglich ist, den krassesten Verletzungen des Menschenrechte (…) entgegenzutreten“ (Heinrich August Winkler: Der Westen braucht den Streit, in: Kölner Stadtanzeiger vom 14. Februar 2007).
6. Allzu oft geschah die Weiterentwicklung zu einer offenen, pluralistischen Gesellschaft gegen den Widerstand der christlichen Kirchen. Allzu oft tat sich gerade Deutschland besonders schwer, die demokratischen Entwicklungsschritte nachzuvollziehen. In der Bundesrepublik Deutschland ist der Staat des Grundgesetzes mit seiner freiheitlichen Demokratie aus protestantischer Sicht inzwischen unbestritten der akzeptierte und der gewollte Rahmen, in dem Christen diese Gesellschaft mit gestalten. Grundlage dafür sind die für jeden geltenden, unveräußerlichen Menschenrechte.
Es ist auf längere Sicht gesehen schon erstaunlich, wie sich die evangelische Kirche von einer reaktionären deutsch-nationalen Grundhaltung in der Weimarer Zeit hin zu einem überzeugten demokratischen Player in unserer Gesellschaft gewandelt hat. Unser rheinischer Präses Manfred Rekowski hat es in einer Predigt letztes Jahr über die Barmer Theologische Erklärung für mich gut auf den Punkt gebracht: „Einen Gottesstaat anzustreben, ist unvorstellbar. Wo immer er versucht würde, es entstünde am Ende über kurz oder lang meist nichts anderes als ‚Hölle auf Erden’. Das scheint mir übrigens eine religionsübergreifende Erfahrung zu sein. Die Kirche dominiert nicht! Sondern sie bringt sich gerade auch in einen weltanschaulich neutralen Staat und in eine plurale Gesellschaft erinnernd in den öffentlichen Diskurs ein: Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit. Gottes Reich ist der Gegenentwurf zu den bestehenden Verhältnissen. Gottes Gebote sind ein Angebot, damit Leben und Zusammenleben gelingen kann“ (Manfred Rekowski: Predigt über 1. Petrus 2,17; gehalten am Samstag, 24. Mai 2014, im Rahmen eines Gottesdienstes zum Thema „Glaube und Politik“, anlässlich der Kommunal- und der Europawahl).
So setzt sich unsere Kirche für eine Gesellschaft ein, die dann gut geordnet ist, wenn sie zuallererst dem unvertretbare Einzelnen dient, und nicht etwa einem wie auch immer gearteten Kollektiv. Sie tritt für eine Gesellschaft ein, in der eine Vielzahl unterschiedlicher Anschauungen über die Bestimmung der Gesellschaft und des Menschen Platz haben und nicht ein einheitliches Weltbild vorgegeben wird. Sie tritt ein für eine Gesellschaft, in der der unauflösbare und unverzichtbare Beitrag aller an der Ausgestaltung des Zusammenlebens anerkannt wird und kein Teilsystem der Gesellschaft alle anderen dominiert.
Unbestritten: Konfliktfelder und Streitpunkte gibt es genug. Die Forderung nach der Verteidigung des „Abendlandes“ allerdings hilft bei der Lösung der aktuellen Fragestellungen nicht. Ein Einstehen für das christliche Menschenbild und die dazugehörigen Werte aber schon. Gut, dass auch viele evangelische Christen das bei der Kundgebung für ein buntes und vielfältiges Essen und an vielen anderen Orten gezeigt haben.
Andreas Müller