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Bleibt in der Liebe!

Haltet fest an der Geschwisterliebe! Vergesst nicht die Gastfreundschaft, denn durch sie haben einige, ohne es zu wissen, Abgesandte Gottes beherbergt. Gedenkt der Gefangenen als Mitgefangene, und gedenkt der Misshandelten, weil ihr auch noch in euren Körpern lebt. (Hebräer 3,1-3)

Vor vier Jahren traf ich Adam. Adam ist ein junger, schüchterner Mann aus Syrien. Er war 19 Jahre alt. Adam kommt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Damaskus. Er hat seine Schule dort nicht beenden können, denn während des Bürgerkrieges in Syrien hat eine Bombe sein Wohnhaus getroffen. Er kann sich nicht genau erinnern, aber seitdem hat er eine verletzte Schulter. Nach diesem schrecklichen Erlebnis begann er seine Flucht vor diesem Krieg nach Deutschland zu planen. Er kam über das Mittelmeer und die Türkei und dann quer durch Europa. Seine Reise beschreibt er unter Tränen als einen schrecklichen Alptraum.

Nach einer Weile bekam Adam seinen Flüchtlingsstatus und fand eine kleine Wohnung. Aber er sprach weder Deutsch noch Englisch und wartete lange auf einen Platz im Sprachkurs. Auch sonst stand er zwischen allen Stühlen. Er kannte einerseits das deutsche System nicht. Andererseits konnte er niemandem aus seinem eigenen Land vertrauen. Das war auch das erste, was er mir gleich sagte, als wir uns kennen lernten. Die Wohnung, die er in Deutschland bekam, war voll mit Schimmel. Er versuchte, dies mit dem Vermieter zu klären, doch der missbrauchte seine Hilflosigkeit und ignorierte ihn. So lebte er in dieser Wohnung einige Monate zurückgezogen ohne Kontakt zur Außenwelt.

Es kam, wie es kommen musste, er erkrankte an den Lungen und an einer Depression. Er wusste nicht, was er tun sollte, denn niemand verstand ihn und er verstand niemanden. Plötzlich bekam er die Nachricht, dass sein Bruder von einer russischen Rakete getötet wurde. Da beschloss er, sein Leben auch zu beenden. Er versuchte, seine Venen aufzuschneiden. Doch er erschrak bei dem Anblick des Blutes so sehr, dass er auf die Straße rannte. Dadurch zog er plötzlich so viel Aufmerksamkeit auf sich, dass er Kontakt mit einem Jugendarbeiter einer Gemeinde bekam.

So entstand auch der Kontakt zu mir, denn sie brauchten einen Übersetzer. Von da an teilte die Gemeinde seinen Schmerz, seine Probleme und seine Situation, als wären es ihre eigenen. Sie halfen ihm mit den Papieren und beim Job-Center, und sie beschlossen ihm zu seinem Recht zu verhelfen, damit er diese schreckliche Wohnung verlassen und eine neue finden könnte.

Sie beschlossen, ihn nicht mehr allein zu lassen, und schließlich nahm ihn einer mit zu seinen Eltern, um dort zu wohnen. Die Gemeinde öffnete ihm die Tür zu Kontakten und Beziehungen zu anderen jungen Menschen, er besuchte nun einen Sprachkurs in der Gemeinde und er träumte davon, hier in Deutschland ein Ingenieursstudium zu beginnen.

Jedes Mal, wenn ich ihn treffe, hört er gar nicht auf zu betonen, wie dankbar er ist für das, was die Jugendarbeiter und die Jugendlichen für ihn tun. Adam sagt immer: „Ich habe eine neue Familie gefunden, ein neues Leben. Sie haben eine Tür geöffnet in meinem dunklen Tunnel!“ Es ist die Geschichte eines Menschen, der Hoffnung gefunden hat, durch die Liebe anderer, nachdem er alles verlor. Für mich ist Adam ein Symbol dafür, was Liebe bewirken kann! Mittlerweile arbeitet er als Altenpfleger hier in Deutschland. Und hilft nun vielen alten und einsamen Menschen.

„Sie haben eine Tür geöffnet in meinem dunklen Tunnel!“

Ja, Liebe ist genau das, was auch wir brauchen, in diesen Tagen. Unser Predigttext heute spricht genau über solch eine Liebe: Bleibt in der Liebe! Ich zitiere den Text aus dem Hebräerbrief, Kapitel 3, Verse 1-3 nach der Bibel in Gerechter Sprache:

„Haltet fest an der Geschwisterliebe! Vergesst nicht die Gastfreundschaft, denn durch sie haben einige, ohne es zu wissen, Abgesandte Gottes beherbergt. Gedenkt der Gefangenen als Mitgefangene, und gedenkt der Misshandelten, weil ihr auch noch in euren Körpern lebt.“

Diese Verse sind ein Teil aus dem Hebräerbrief für die junge Gemeinde. Sie lebte unter schwierigen Bedingungen als Minderheit in harten Zeiten. Sie sind in ihrem Glauben müde geworden. Die Worte des Hebräerbriefes wollen die Menschen ermutigen – sie wollen auch uns heute ermutigen, über die Zeiten hinweg. Und so lautet der Zuspruch für die Gemeinde damals, wie für uns heute:

„Haltet fest an der Geschwisterliebe!“

Wir kennen mehr oder weniger die Bedeutung von Geschwisterliebe. Wir wissen, was es heißt, eine Familie zu haben. In der Familie erleben wir bedingungslose Liebe, sind wir akzeptiert, wie wir sind und müssen nichts leisten für die Liebe. Hier finden wir Trost, Unterstützung und Ermutigung. In der Familie sind wir nicht allein, wissen jemanden an unserer Seite, können weinen und lachen, streiten und teilen. Das ist das Bild von Geschwisterliebe. Ein Bild, das viele auch in ihren Familien vermissen, auf Grund von zerbrochenen Beziehungen, Konflikten und Unversöhnlichkeit.

Dennoch bleibt es das Bild von der Liebe in der Familie, der Geschwisterliebe. Das ist es, was Adam verlor und was er in der Gemeinde fand. Das Neue Testament beschreibt die Gemeinde Christi als Familie. In der Gemeinde sind wir nicht Fremde oder Ausländer, sondern ein Familienmitglied.

Die Liebe gilt als ein bekannter christlicher Grundwert. Bekannt im Liebesgebot und der Nächstenliebe. Manchmal ist es schwer so zu lieben, gerade, wenn man die Erfahrung gemacht hat, dass diese offene Liebe missbraucht wurde, wenn wir denken: „ jetzt ist es genug, ich kann nicht mehr nur lieben!“ Gerade dann ist es wichtig, standhaft zu bleiben, an der Liebe festzuhalten. Denn die Liebe ist es, die Hoffnung schenkt, die „eine Tür öffnet in der Dunkelheit“.

Unsere Welt leidet heute unter einem großen Mangel an Liebe, sie leidet unter Lieblosigkeit.

Heute, an diesem Sonntag Reminiszere, denken wir an die vielen Flüchtlinge, an die Kinder, Frauen und Männer, die an der Grenze von Europa leiden, an die vielen, die jeden Tag im Mittelmehr ertrinken. Wir denken an die, die in Idlib bis heute ohne Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben leben müssen!

Ja, die Dunkelheit beherrscht unsere Welt, nur das Licht der Liebe kann unsere Welt heute retten. Nicht die Angst, nicht der Hass, nur die Liebe ist die Hoffnung für unsere Welt. Martin Luther King Jr. hat gesagt: „Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben: nur Licht kann das. Hass kann Hass nicht vertreiben: nur Liebe kann das“ (Zitat aus: A Testament of Hope: The Essential Writings and Speeches by Martin Luther King Jr., James Washington).

Diese Liebe ist nicht nur ein gutes Gefühl oder ein guter Gedanke über den anderen. Liebe ist unsere Verpflichtung gegenüber den anderen in Not. Liebe, das ist unser Auftrag: Akzeptanz und Herzlichkeit gegenüber unseren Geschwistern, die in Not sind, zu zeigen. Gastfreundschaft ist unsere christliche Verpflichtung.

„Vergesst nicht die Gastfreundschaft, denn durch sie haben einige, ohne es zu wissen, Abgesandte Gottes beherbergt.“

In der antiken Zeit hatten die Menschen Angst vor Fremden, sie fürchteten sich vor negativen Geistern und Kräften, die mit dem Fremden kommen könnten. Heute gibt es auch noch eine Angst vor den Fremden, gerade jetzt mit den vielen Flüchtlingen.

Die Situation der Flüchtlinge hier in Europa wirft wahrscheinlich eine Menge Fragen bei uns allen auf. Vielleicht haben auch einige unter uns Angst vor diesen Fremden, die da kommen. Die Stimmen des Hasses und der Angst sind laut unter uns… Viele politische Bewegungen des Rechtsextremismus leben und entwickeln sich nur durch diese Angst, nutzen diese Angst.

Liebe ist aber eine Befreiungsbewegung Gottes. Gott befreit uns von der Angst durch die Liebe, die Gastfreundschaft.

Es ist unendlich traurig für unsere Menschlichkeit und für unseren christlichen Glauben, wenn wir uns heute fragen, ob man einen ertrinkenden Mensch retten darf oder nicht! Die Angst macht uns heute blind. Wir verlieren dabei unsere Menschlichkeit, weil viele die Flüchtlinge nicht als Menschen, sondern als Fremde sehen.

Im Süddeutsche Zeitung Magazin schrieb Wolfgang Luef: „Es geht nicht um unterschiedliche Auffassungen, wie man mit Flüchtlingsbewegungen umgehen soll. Es geht nicht darum, dass man nicht alle aufnehmen kann. Es geht einfach um ein Mindestmaß an Zivilisiertheit: Wer gerade dabei ist, zu ertrinken, der ist weder Flüchtling noch Migrant, der ist weder Afrikaner noch Europäer, weder Muslim noch Christ, der ist ein Mensch, der dabei ist, zu ertrinken, und man muss alles unternehmen, um ihn zu retten“ (Süddeutsche Zeitung Magazin vom 5. Juli 2018: „Der Untergang“).

Wenn wir heute unsere Herzen für die Fremden öffnen, dann erfahren vielleicht auch wir, hier und heute, in diesen Zeiten, einen Segen, wie wir es in unserem Text gelesen haben: „…denn durch sie haben einige, ohne es zu wissen, Abgesandte Gottes beherbergt.“

Sarah und Abraham haben es erlebt: Als sie sich, ihr Herz und ihr Heim für Fremde geöffnet haben, bekamen sie den Sohn, mit dem sie nicht mehr gerechnet hatten. Sie bekamen einen unerwarteten Segen. Und ich hoffe, auch wir hier werden, trotz all dieser Angst, doch noch einen unerwarteten Segen durch Flüchtlinge erfahren.

Was ich sicher glaube, ist, dass wir durch eine ehrliche und offene Willkommenskultur nicht nur für Adam und all die anderen eine Tür im Dunkeln öffnen, sondern gerade im Angesicht der Gewalt auch für uns selbst.

Es ist eine Tür für uns, unser Land und für unsere Zukunft für ein besseres Miteinander. Es ist die Tür zu ehrlicher Begegnung und Integration, einem Dialog auf Augenhöhe. Es ist die Tür zur Menschlichkeit und zum Mitgefühl für alle Seiten.

„Gedenkt der Gefangenen als Mitgefangene, und gedenkt der Misshandelten, weil ihr auch noch in euren Körpern lebt.“

David Gabra