„Aller Anfang ist schwer.“ Sagt das Sprichwort. Wahrscheinlich stimmt das für uns Erwachsene in vielen Fällen auch. Man weiß manchmal nicht, was einen erwartet. Andere sind einem schon voraus und haben Erfahrungen. Was es manchmal schwierig macht: Das Leben ist voller Anfänge: Anfänge bei Beziehungen, Anfänge im Beruf, Anfänge mit neuen Umgebungen und, nicht zu vergessen, Anfänge bei und mit der Erfahrung, wenn und dass man älter wird.
Bei Kindern ist das anders. Ein Wunder, wie die Kinder, wenn sie in die Welt geboren werden, mit den unglaublich vielen Anfängen fertig werden. Unglaublich, wie sie die Welt erfahren und benennen, Einstellungen und Vorlieben entwickeln und der Welt gegenüber selbstständig werden.
Die Herausforderungen, vor die man bei Anfängen gestellt wird, sind verschieden. Es gibt leichte Aufgaben, die man schnell lösen kann, und schwierige Stufen, die nicht so leicht zu gehen sind. Es ist wirklich nicht sehr schwer, das Autofahren zu lernen. Sehr schwer ist es, Lebenskrisen zu bestehen und neue Lebensabschnitte für einen selbst einzuleben. Das ist mit Schmerzen, mit Verzicht und oft auch mit Niedergeschlagenheit verbunden.
Auf der anderen Seite: Anfänge machen lebendig. Sie erschließen neue Erlebnisfelder, neue Aufgaben, sie öffnen Türen für neue Begegnungen und wecken eigene Fähigkeiten, die wir vorher gar nicht kannten. In dem Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse, das fast jeder kennt, heißt es:
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.
Anfänge! Am 1. Januar hat das neue Jahr angefangen. Es ist das bürgerliche Jahr nach dem bürgerlichen Kalender. Ein anderes Jahr ist zu diesem Zeitpunkt schon weiter fortgeschritten: das Kirchenjahr. Es hat bereits am 1. Advent begonnen. Das bürgerliche Jahr hat die vier Jahreszeiten, es hat keine Feste. Die Feste pflanzt das Kirchenjahr in das bürgerliche Jahr: Weihnachten, Karfreitag und Ostern, Christi Himmelfahrt und Pfingsten. Mein großes Problem ist, wie sich bürgerliches Jahr und Kirchenjahr zueinander verhalten, oder besser: wie sich bürgerliche Lebensregeln und die christlichen Lebensregeln, die im Kirchenjahr eingeschrieben sind, miteinander vereinbaren lassen.
Wir alle leben bürgerliche Tugenden: Ehrlichkeit, Redlichkeit, Achtung vor den Mitmenschen, Rücksicht, Höflichkeit und vieles mehr. Wir zahlen unsere Steuern und übervorteilen niemanden. Wir gehen zur Wahl und achten die gesellschaftliche und staatliche Ordnung. Reicht das nicht für ein ordentliches Leben?
Offenbar nicht: Der entscheidende Gedanke für mich ist, dass wir in Gottes Schöpfung leben. Der Raum, den wir, wie Hermann Hesse sagt, heiter durchschreiten sollen, der auch nicht unsere endgültige Heimat sein soll, ist für mich – mit dem „Weltgeist“ des Gedichtes kann ich gar nichts anfangen – Gottes Schöpfung. Und das muss man ins Alltägliche übersetzten: Für das, in dem und mit dem wir leben, gibt es Regeln: Schonung, Rücksicht, Nachhaltigkeit, Energie-Sparsamkeit, Konsum- und Bewegungsbeschränkungen und vieles mehr. Sorgen sollen wir für alle Mitgeschöpfe, für die Mitmenschen genauso wie für Pflanzen und Tiere, mit denen wir leben und die wir benutzen. Die Jahreslosung für 2021 nennt diese Regel, die wir der Schöpfung gegenüber befolgen sollen, Barmherzigkeit.
Barmherzigkeit durchdringt unsere bürgerlichen Tugenden mit neuem Licht. Barmherziges Handeln ist oft vom bürgerlichen Handeln gar nicht zu unterscheiden, hat aber ein anderes Motiv: Es ist ein Handeln als Antwort und in der Verpflichtung auf und für Gottes Fürsorge für uns und für die Welt.
Anfänge: 1. Januar und 1. Advent. Anfangsgeschichten: Urknall-Theorie und Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Feuerwerk und Adventskerzen. Daseinskonsequenzen: galaktischer Teil der unendlichen Milchstraße und Geschöpf eines fürsorglichen Gottes. Und schließlich: Erdenbürger und Gotteskind. Mit beidem müssen wir leben. Fangen wir mal damit an.
Hans Erlinger