Durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird. (Römer 5,2)
Manchmal, am Ende eines Tages, wenn ich in Gedanken noch einmal alles durchgegangen bin, was der Tag so gebracht hat – die Arbeit und die Begegnungen, das, was noch auf dem Zettel ist und auf den morgigen Tag verschoben wird, das, was mich geärgert hat oder mir schwer auf dem Herzen liegt, wenn ich also alles das habe Revue passieren lassen, ehe ich die Augen für die Nacht schließen möchte, um zu neuer Kraft zu kommen, scheint mein Mann das zu spüren.
Und manchmal bringt es ihn dazu, erleichtert zu lächeln, um dann für mich hörbar laut festzustellen, dass wir doch dankbar sein können, dass es uns so gut geht, wie es uns geht, dass die Sorgen und Nöte, die wir vielleicht haben, – und mit diesem Satz nimmt er mir oft den Wind aus den Segeln, weil ich nichts mehr erwidern kann – bei weitem nicht so groß sind, wie die der anderen Leute. Ich bin Frank da sehr dankbar. Freue mich immer, dass er mich daran erinnert, dass es uns gut geht, dass er manches „Aber“ von mir im Keim erstickt und einen ganz positiven Blick auf unser Leben wirft.
„Alles Gnade“ ist dann das, was mir dazu einfällt. Dieser Ausspruch ist gar nicht von mir, sondern das erste Mal habe ich ihn bewusst gehört, als mich vor vielen, vielen Jahren mein damaliger katholischer Kollege vor lauter Freude in den Arm nahm und laut ausrief: Ach, was geht es uns gut! Alles Gnade!
Ja, es ging uns auch gut, wir hatten allen Grund dankbar zu sein und der Herr Kaplan erinnerte uns gerade daran, wem wir das alles zu verdanken hatten, denn Gnade hat mit Gott zu tun und Gnade hatte Gott mit uns.
Nun empfinde ich wirklich das Gefühl – nicht nur, wenn mich jemand daran erinnert, dann aber besonders –, dass Gott gnädig zu mir ist, und dieses Gefühl erstreckt sich nicht allein auf meine Lebensumstände, die Menschen, die ihr Leben mit mir teilen, mein materielles Glück, mein ganz persönlicher Gesundheitszustand, sondern Gnade empfinde ich auch, wenn ich an mein Seelenleben, besser noch an mein Seelenheil denke.
Denn auch da fühle ich mich von Gott gnädig bedacht. Ich kann mit allem, was mich bedrängt und bedrückt zu ihm kommen, ich darf alles, was mich beschwert bei ihm ablegen, ich weiß mich bei ihm gut aufgehoben. Und dieses Gefühl habe ich tatsächlich auch, wenn ich durch irgendwelche Krisen muss, ich Schwieriges auszuhalten habe, Abschiede genommen werden müssen, die mir schwer fallen, die ich am liebsten nicht nehmen möchte.
Selbst wenn ich manchmal sage, dass ich mich von aller Welt verlassen fühle, dass ich Gott nicht richtig spüren kann, ich so viel zu heben und zu tragen habe, dass ich verzweifeln möchte, ein klitzekleiner Rest in mir weiß auch dann noch, dass Gott da ist, dass er mich nicht loslässt, sondern vielleicht sogar trägt, auch wenn ich das nicht spüre.
Ob Sie verstehen, was ich meine, glaube, fühle? Ob Sie das vielleicht auch selbst schon einmal erlebt haben? Dass Sie sich bei allem Schweren, das Sie durchmachen mussten, trotzdem gehalten wussten? Vielleicht sogar Trost erfahren durften?
Ich bin so dankbar, dass viele Menschen, die ich in den Kliniken hier besuche, mir Einblicke in ihr Leben geben, und ich manches Mal auch von ihnen höre, dass sie trotz einer schweren Diagnose nicht verzweifeln, sondern sich gehalten fühlen und Kraft geschenkt bekommen und gelegentlich auch gestärkt daraus hervorgehen.
Und mir selbst ergeht es sogar manchmal so, dass ich, wenn ich mein eigenes Leben aus der Rückschau betrachte, ich über manches Schwere und Schwierige sogar froh bin, weil es mich erst den wahren Wert von allem Glück und Schönem erfassen lässt.
Da bin ich übrigens nicht alleine. Vor einiger Zeit hat eine Frau zu mir gesagt, dass sie für alles dankbar sei, weil es ihr Leben reich gemacht hat und ihrem Leben auch eine gewisse Tiefe verliehen hat. Ganz dankbar hat sie auf ihr Leben geschaut und meinte, dass erst alles zusammengenommen sie zu dem gemacht hat, wie sie jetzt ist und deshalb sei alles, wirklich alles gut für sie gewesen. Nun hatte sie die Gnade erfahren, dass nichts, was sie erleben musste und durfte, sie zerbrochen hat…
Ich denke auch, dass das so ist, dass zu einem guten Leben beides gehört: Das Schöne und das Schlimme, das Schwere und das Leichte, das Helle und das Dunkle, die Freude und der Schmerz. Erst beides in der Zusammenschau gibt dem Leben seinen Wert.
Aber wenn ich an Gottes Gnade denke, dann denke ich auch daran, dass ihm nichts zu teuer ist für mich, der seinen Sohn für mich gegeben hat, damit ich befreit von Schuld leben kann. Auch das ist ja etwas, was meinem Leben gut tut. Dass ich mich so geliebt weiß, dass ich Vergebung erfahre, dass da einer ist, der meine Schuld nimmt.
In der Passionszeit denken wir an diesen Aspekt unseres Glaubens ja ganz besonders, bedenken wir die Leidenszeit Jesu, sein Geschenk an uns, sein „uns-Befreien“. Und ich glaube – und das prägt meinen Arbeitsalltag hier in der Klinik aufs Deutlichste –, dass Gottes Sohn Jesus Christus den Tod überwunden hat und deshalb erwarte ich mehr als nur dieses irdische Leben.
Theologisch formuliert sage ich, dass ich aus der Hoffnung lebe, aus der Hoffnung, dass das hier auf Erden noch nicht alles ist; aus der Hoffnung, dass der Tod mich nicht aus den Händen Gottes reißen kann; aus der Hoffnung, dass noch etwas Besseres kommt.
Neulich hat mir eine Patientin eine Geschichte dazu erzählt, die sie selbst irgendwo gehört und dann behalten hatte:
Eine ältere Frau, die wusste, dass sie bald sterben wird, hat ihren Pfarrer gebeten, sie zu besuchen, um alles mit ihm zu besprechen. Die Beerdigung, was und wie sie es gern hätte usw. Und als die beiden fertig sind mit ihrer Besprechung und der Pfarrer schon aufgestanden ist und sich gerade verabschieden möchte, schlägt sich die Frau mit der Hand an die Stirn und sagt: Mensch, jetzt hätte ich beinahe das Wichtigste vergessen: Bitte, Herr Pfarrer, wenn ich gestorben bin, dann hätte ich gern einen kleinen Löffel mit in den Sarg. – Einen kleinen Löffel? hat der Pfarrer verdutzt zurückgefragt, so einen richtigen kleinen Löffel? – Ja, hat die Frau gemeint. Wissen Sie, Herr Pfarrer, ich habe in meinem Leben viele Einladungen zum Essen gehabt, und immer, wenn ich einen kleinen Löffel beim Besteck gesehen habe, dann habe ich gewusst, dass ich mir etwas Appetit aufsparen muss, weil nach dem Essen noch irgendetwas Leckeres kommt. Und den kleinen Löffel möchte ich aus diesem Grund mit in den Sarg nehmen. Er erinnert daran, dass nach dem Tod das Beste noch kommt.
Eine wunderbare Geschichte. Eigentlich müssten alle Christinnen und Christen jetzt schon und immer einen kleinen Löffel mit sich herumtragen, um erinnert zu werden, um die Hoffnung auf das Beste greifbar in Händen zu halten, um erinnert zu werden.
So ist das. Das glaube ich. Da lebe auch ich aus der Hoffnung.
Warum ich Ihnen all das erzähle? Ihnen vom positiven Blick meines Mannes auf das Leben berichte, Ihnen von meinem Glück und Gottes Gnade erzähle, dass ich trotz manchem Schweren Gott noch spüren kann, Sie an meinen Hoffnungen teilhaben lasse?
Nun, weil ich damit auch dem Apostel Paulus ganz nah bin, der offensichtlich so ähnlich fühlt wie ich und der sogar sagt, dass es uns allen, also allen Christinnen und Christen so ergeht, ich nur seine Worte ein wenig mit Leben füllen wollte. Er sagt es uns heute und damals der Gemeinde in Rom so:
Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus. Durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird. Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist (Römer 5,1-5).
Ja, so ist das. Amen.
Liebe Frau Seeliger,
ein 💚-liches Dankeschön für Ihre wunderbaren Worte.
Es tut so gut, von dieser Hoffnung, dieser Geborgenheit in Gottes Gnade zu lesen.
Es hilft mir enorm, einen Halt zu spüren, den ich gerade jetzt in meiner persönlichen Lebenskrise (Ehe/Familie zerbricht gerade) und der Pandemie, wo ich als Risikoperson nicht zusammenrücken kann, isoliert leben muss.
Ich vermute, dass es viele weitere Menschen so voller Dankbarkeit erwischt hat, wie mich. Auch in ihrem Namen ein herzliches
Vergelt es Gott. Bleiben oder werden Sie und Ihre Lieben gesund.
Mit lieben dankbaren Grüßen
Angelika Jüngst