Dieser Beitrag wurde 1.893 mal aufgerufen

Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger

Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. (Lukas 19,7)

Ich spiele weder Fußball noch Geige. Vor zwei Berufsgruppen aber habe ich eine große Hochachtung: vor Fußballtrainern und vor Dirigenten bzw. Chorleitern, sowohl männlichen wie auch weiblichen. Solche Leute bewundere ich: Ich glaube, dass es zu ihrem Beruf gehört, in Menschen ihre Begabungen zu erkennen und deren Entfaltung hervorzulocken. Talententdecker sehen, was dem vordergründigen Blick verborgen bleibt.

Als Jesus den reichen, aber unbeliebten Oberzöllner Zachäus auf einem Baum hocken sieht, da sieht er nicht nur den kleingewachsenen Mann, der sich angesichts der Menschenmenge nicht anders zu helfen weiß. Jesus ruft ihn herunter vom Baum: Ich muss heute in dein Haus einkehren! Er sieht nicht nur den Raffgierigen. Er sieht Zachäus, und in ihm dessen Sehnsucht nach einem stimmigen Leben.

Dass Jesus ausgerechnet bei diesem Korrupten zu Gast sein will, dass sich zu der Party auch etliche einfinden, die zum selben Milieu gehören, das findet nicht den Beifall der Kerngemeinde. Ihre Meinung ist: Wenn Jesus wirklich ein Prophet wäre, dann wüsste er doch, mit welcher Mischpoke er es hier zu tun hat. Aber er nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. Wie enttäuschend!

Die Kritiker waren Leute, die sich um eine vorbildliche Lebensführung bemühten. Sie lebten wertebewusst und hatten hohe Ansprüche an sich und andere. Menschen wie Zachäus waren damit überhaupt nicht zu vergleichen. Er wusste, wie man Leute abzockt und Gesetze umgeht. Gescheitert? Zachäus war wohlhabend und erfolgreich. Er hatte Macht, doch an der Wahrheit hatte seine Seele Schiffbruch erlitten. Er war ein Gauner mit weißem Kragen.

Für die Mission Jesu waren solche Leute keine bedauerliche Ausnahme. Im Gegenteil: Sie waren seine Zielgruppe. Mit den Jüngern, mit denen er sein Leben teilte, gründete er seine Kirche als Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger: „Denn“, so sagte er, „die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. (…) Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“

Verblüffend ist: Jesus redete mit Zachäus nicht über Geld. Zachäus fing selber davon an: „Die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, und wen ich erpresst habe, den entschädige ich mit der vierfachen Summe.“ Zachäus erkannte glasklar, was er bisher verdrängt hatte.

In einem seiner Briefe schreibt der Apostel Paulus an Christen in Korinth. In dieser Hafenstadt hatten mindestens einige von ihnen eine beachtliche Sünderkarriere hinter sich: Unzüchtige, Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer, Räuber…

Durch die Predigt des Paulus sind sie Jesus begegnet. Dadurch kam Wahrheit in ihr Leben. Sie sahen ihrer Vergangenheit ehrlich ins Auge. Mitten in einer Welt von Selbstrechtfertigung und Verdrängung fanden sie Vergebung und eine neue Orientierung. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben begegneten sie jemandem, der sie kannte und trotzdem vorbehaltlos annahm. Wenn Menschen zuerst durch ein Fegefeuer von Vorwürfen müssen, dann verschließen sie sich. Erfahren sie jedoch Annahme, dann blühen sie auf wie Blumen in der Sonne. Wer das selbst erlebt hat, der kann gar nicht anders, als sich ebenfalls für Gescheiterte zu öffnen.

Übrigens: Wer das Gesagte in der Bibel nachlesen möchte, findet es im Lukasevangelium, Kapitel 19, Verse 1-10 und im 1. Korintherbrief, Kapitel 6, 9–11.

Hermann Bollmann