Wir sind auf dem Campus Essen in der grün-blauen West-Ecke, die „Gelbe Mensa“ und die bunten Türme der Universitätsleitung direkt vor Augen. Drehen Sie sich mal um, dann sehen Sie die BRÜCKE. Das ist unser Haus. Es gehört dem Kirchenkreis Essen und beherbergt knapp 180 Studierende – und uns, die Evangelische Studierendengemeinde (ESG) und eine stille Campus-Kapelle, in der die Zeit gefühlt halb so schnell läuft wie auf dem übrigen Campus; und ein beliebtes Café, das manche die „Blaue Mensa“ nennen. Hier haben wir einen schönen hellen gemütlichen Saal für Veranstaltungen und Gottesdienste und einen kleineren Raum für Seminare, Musik und Sport. Es gibt auch eine hauseigene Kneipe, die die Studis montags und mittwochs öffnen, einen Tischtennisraum im Keller und natürlich unsere Büros. Unser Hauptquartier ist mittendrin im Campus-Getümmel.
Anfang Oktober war wieder Semesterbeginn. Rush-Hour. Menschen suchen Räume, witzeln nervös über die Farben und die Raumnummern. Wir kennen uns schon ein bisschen aus, bleiben stehen, geben Orientierung: Einfach so, auf dem Weg zur Mensa und an unserem Infostand nicht weit vom Haus.
Zwischen Studienplanung und Gewinnspielen gibt es Seelsorge: Broschüren, kluge Bücher und auch Menschen, die für das Thema ansprechbar sind. Ein Gewinnspiel haben wir auch und ein Abendmahl to go, mit der Fachschaft Evangelische Theologie. Und immer wieder Gespräche etwas abseits zwischen Bier und Orientierungsfragen. Verabredungen: „Komm doch mal vorbei! Vera hat eine Sprechstunde und wir machen auch Veranstaltungen. Hier ist unser Programm, hier sind die Homepage und der Insta-Account.“ Uni ist Rush-Hour. Abends sitze ich schon im Zug nach Hamburg. Da werde ich ein Paar trauen. Die Trauung davor war in Berlin. Studierende sind mobil, aber sie vergessen Dich nicht.
Wieder im Büro: Jemand ruft an. Nach und nach erfahre ich, dass er Prüfungsangst hat. Seinen Namen sagt er mir nicht. Ich coache ihn und er lässt sich darauf ein. Drei Monate später ist er wieder dran. „Danke!“ sagte er, „das hat mir geholfen.“ Er ist erleichtert und möchte sich bedanken und ich sage: „Erzähl mir was von Deinem Fach“. Für einen Moment steigen wir ganz tief ein in einen Zweig der Wahrscheinlichkeitsmathematik und das neugierige Kind in mir nerded sich richtig rein in das fremde Wissen – was für ein wunderbarer Dank! Auch das ist Uni: Jede und jeder ist für irgendetwas Fachperson. Alle sind hier zum Lernen.
Anatomie. Das ist ein anderer Campus, ungefähr eine halbe Stunde mit der Tram. Es ist Sommer. Mein katholischer Kollege und ich sind dort, um eine wundervolle Feier zu begleiten. Studierende und Lehrende des Anatomischen Instituts beerdigen die Menschen, an deren Körpern sie ein Semester lang gearbeitet haben. Sie geben sich unglaubliche Mühe – äußerlich mit der Vorbereitung der Feier und auch innerlich. Vielleicht werden sie einmal Götter oder Göttinnen in Weiß sein, aber jetzt sind sie existentiell berührte junge Menschen, die voller Respekt vor der Traurigkeit der Angehörigen stehen.
Letzten Sommer haben sie sich eine Predigt über Dankbarkeit von mir gewünscht. Einige von ihnen haben geweint. Tod und Sterben kommen oft vor, an der Uni – viel öfter als man denkt: Eltern und Verwandte, auch Freunde von Studierenden, auch ein Kollege. Wir sind ein quirliger lebendiger Thinktank. Fit zu sein, ist wichtig und dass man funktioniert. Für Traurigkeit ist wenig Zeit. Das ist oft Thema in meiner Sprechstunde.
Und Ausbeutung. Und Übergriffe. Studierende können so erschreckend schutzlos sein. In der Arbeitswelt stehen sie ganz hinten, kaum jemand schützt sie und sie brauchen das Geld. Körperliche Übergriffe kommen auch vor. Einer erlebt das in Serie und sagt mir dann nur: „Es ist egal, solange ich den Kerl nicht wiedersehen muss.“ Nein! Es ist nicht egal! Es ist schweres Unrecht und der Weg da heraus ist so lang und so hart.
Eine andere kommt sehr oft. Sie findet einfach keinen Anschluss. Also arbeiten wir daran, dass sie erst einmal sich selbst wiederfinden kann. Das hat Therapie gebraucht und viele Umstellungen in ihrem Leben. Dafür brauchte sie andere als mich. Ich war nur diejenige, die ihr Mut gemacht hat. Sie hat es in Angriff genommen. Jetzt höre ich nichts mehr von ihr, aber ich weiß, wo sie ist und dass es ihr gutgeht. Das ist gut so, denn ich war vielleicht nötig, vielleicht auch hilfreich, aber jetzt in dieser Zeit ich gehöre zu dem schmerzhaften Teil in ihrem Leben. Vielleicht kommt sie in ein paar Jahren wieder.
Uni ist der Anfang von ganz vielen Dingen. Ein Stück Deines Lebens sind wir bei dir. Dann kommen andere. Wenn du willst, dann komm mal zurück zu uns. Wir würden uns freuen.
Vera von der Osten-Sacken
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Diese „Ortsbegehung“ war der erste von drei Predigtimpulsen im zentralen Reformationsgottesdienst „Beherzt und beseelt“, den der Kirchenkreis Essen am 31. Oktober 2024 in der Kreuzeskirche gefeiert hat. Die Ortsbegehungen II („Im Krankenhaus“, von Uwe Matysik) und III („In der Essener Innenstadt“, von Ulf Steidel) folgen.
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