Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. (Jesaja 9,1)
Der 4. Advent und der Heilige Abend – heute fällt tatsächlich beides zusammen. In der kürzesten Lichtzeit des Jahres entzünden wir das vierte Licht am Adventkranz, um deutlich zu machen: Gott will Licht in die Welt bringen. Es ist eine sehr symbolische Zeit. Lange, dunkle Nächte, die als Bild stehen für die Dunkelheiten der Erde und auch unserer eigenen Lebensgeschichten. Jede Kerze, die in diesen Tagen leuchtet, ist ein Symbol dafür, etwas gegen diese Dunkelheiten unserer Zeit und Geschichte zu tun.
Diese Symbolik spricht mich jedes Jahr aufs Neue an. Kaum ist der 1. Advent da, beginne ich Kerzen und Lichter aufzustellen. Genieße die erleuchteten Fenster in meiner Straße. Und blicke erwartungsvoll auf den Heiligen Abend, an dem endlich der Weihnachtsbaum leuchtet. Ich sehne mich nach dieser ganz besonderen Stimmung, diesem geheimnisvollen Zauber, der sich über die Jahre mit vielen Erfahrungen verbunden hat.
Unvergesslich sind für mich die Weihnachtsfeste, als ich selbst Kind war; oder die mit unseren Töchtern, als sie klein waren. Und irgendwie gehört auch zu den Weihnachtsfesten immer die Erinnerung an diejenigen, die nicht mehr dabei sind – die Großeltern, die Eltern oder Schwiegereltern, der Bruder und Schwager.
In allen Veränderungen bleibt das Weihnachtsfest eine besondere Zeit, in der die Dunkelheit leuchtet. Eine Zeit, in der ich bewusster lebe – und auch – so denke ich manchmal – mein Glaube irgendwie tiefergeht. Ich mag diese Zeit, gerade weil in ihr Dunkelheit und Licht so intensiv beieinander sind. Und ich liebe die alten Geschichten, die wir zu Weihnachten aus der biblischen Tradition lesen. Im Buch des Propheten Jesaja heißt es:
Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. (Jesaja 9,1)
Und:
„Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des HERRN geht auf über dir! Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“ (Jesaja 60,1+2).
Ich mag diese alte Verheißung: mutig und trotzig mitten in die Finsternisse hinein. Mitten hinein in die tiefe Verzweiflung in der Ukraine, in Israel und Gaza. Ertrinkende im Mittelmeer. Hunger. Gewalt. Gleichgültigkeit. Vorurteile. Missbrauch. Mobbing. Wir alle spüren die Dunkelheit. Jeden Tag und jede Nacht.
Und erzählen dennoch fröhlich, trotzig von einem Wunder, das aus der Nacht eine „Weihnacht“, eine „Heilige Nacht“ macht (nach Christina Brudereck). Als das Gotteskind geboren wird, kommen die Gegensätze zusammen: Groß und klein. Dunkel und hell. Kindlich und abgeklärt. Alltäglich und feierlich.
Der Widerspruch gehört zum Weihnachtsfest unbedingt dazu. So sind unsere alten Texte und Hymnen Widerstandslieder gegen die Dunkelheit: Soldatenmärsche werden zum Tanz. Kein Blutvergießen mehr. Menschen werfen ihre Last ab. Sanft und zuversichtlich singen unsere Lieder davon, dass Gott Mensch wird. Die alten jüdischen Prophezeiungen, für uns Christ*innen werden sie wahr im Licht der Weihnacht, im Kind in der Krippe.
Annehmen kann ich diese Verheißungen, weil der Prophet sie einbettet in das reale Leben, in die Finsternisse seines und meines Lebens. Ich bin froh, dass auch unser christlicher Glaube nicht einfach sagt, dass mit Weihnachten alles gut wird. Glaubenshoffnung meint etwas anderes. Sie sagt: Was auch kommen mag. Gott wird mir zur Seite stehen, gerade in der Dunkelheit, die mir Angst macht.
Zunächst ganz praktisch: Man sieht nicht viel da draußen, wenn es dunkel ist. Deshalb ist die Dunkelheit auch ein Symbol für tiefergehende Ängste. Niemand tappt gerne im Dunkeln, lieber möchte man die Dinge erhellen. Niemand „sieht gerne Schwarz“, lieber erkennt man „Licht am Ende des Tunnels“ und hat wenigstens einen Hoffnungsschimmer vor Augen. Wenn „etwas finster aussieht“, steht es darum schlecht. Von „geistiger Umnachtung“ spricht die deutsche Sprache, wenn sich jemand ganz vom Leben abgewandt hat. Diese Sprachbilder über Dunkel und Hell machen deutlich: in einer ganz tiefen Weise steht die Dunkelheit für das Bedrohliche und den Tod, das Licht dagegen für die Hoffnung und das Leben.
Ich schaue in die Kerze und meine Gedanken sind bei denen, die eher mit der Finsternis zu kämpfen haben. Viele Menschen bangen um ihre Existenz, um ihre Gesundheit, um ihr Leben, um ihre Hoffnung. Genau in diese Dunkelheit der Welt ist die Geschichte von der Geburt des Jesus von Nazareth hineingeschrieben. Damals regiert ein mächtiger Kaiser die Welt. Er selbst versteht sich als Friedenskaiser. Aber es ist auch klar, wie er den Frieden sichern will – mit seiner Macht, seinen Truppen, mit seiner Gewalt. Gibt er einen Befehl, haben die Menschen bis in den hintersten Winkel seines Reiches zu folgen.
Ein solcher Befehl steht am Anfang der Weihnachtsgeschichte. Alle Untertanen sollen gezählt werden, damit der Kaiser besser Steuern erheben kann. Bewusst stellt der Evangelist Lukas die Geschichte von der Geburt Jesu in diesen großen Zusammenhang. Er erinnert damit an das Schicksal und die Not der kleinen Leute. Zu ihnen zählen Maria und Josef. Und die Hirten. Während sie draußen auf dem Feld lagern, wird die dunkle Nacht plötzlich hell erleuchtet. Die Bibel sagt, dass die Hirten die Klarheit Gottes sehen. Dazu erscheinen Engel und sagen: „Fürchtet euch nicht! Euch ist heute der Heiland geboren!“
Die Hirten damals waren Nachtarbeiter, standen am Rande der Gesellschaft. In ihre Augen blicke ich an der Krippenstation unserer Marktkirche in der Innenstadt, die Inhaftierte der Justizvollzugsanstalt Essen gestaltet haben. Die Inhaftierten zeigen sich selbst als Hirten des 21. Jahrhunderts. In den Gesichtern lese ich ihre brüchigen Lebensgeschichten ebenso wie ihre Sehnsucht nach Licht.
Heute, am Heiligen Abend, an dem das Gotteskind geboren wird, stehen wir gemeinsam an der Krippe – so unterschiedlich wir auch sind. Und hören die Botschaft vom Kind in der Krippe, das unser Licht sein will.
An die Botschaft vom Gotteskind in der Krippe erinnern alle Lichter, die in diesen Tagen leuchten. Sicher haben Sie neben allen Herausforderungen und Krisen im zurückliegenden Jahr auch eigene Lichtmomente erlebt – halten Sie sie wach als Kraftmomente für dunkle Zeiten. Zu meinen Lichtblicken im Jahr 2023 zählen:
— Unser zentrales Tauffest im Stadtgarten, im Sommer dieses Jahres: Unter dem Motto „Weil Gott mit dir Geschichte schreibt!“ wurden an zwanzig Taufinseln auf der grünen Wiese inmitten der Stadt 63 Kinder und Erwachsene getauft, fast 1.000 Gäste haben sie dabei begleitet.
— Lichtblicke wie das Essen Light-Festival, mit magischen Momenten im Dom und in der Marktkirche bei „Licht und Segen“.
— Ein Glanzpunkt war für mich auch unsere Menschenkette am 12. November vor der Alten Synagoge, in der Innenstadt – als Zeichen der Solidarität mit ALLEN Opfern in Israel und Palästina. Als gemeinsames Zeichen mit über 4.500 Teilnehmenden gegen Gewalt, Verachtung und Abwertung der und des Anderen, wo auch immer sie zum Ausdruck kommt – weil wir in unserer Stadt in Frieden zusammenleben wollen. Tausende Kerzen leuchteten als Friedenslichter für ein freies Leben und eine gerechte Zukunft für alle.
Das Licht der Liebe ist ist ein wundervolles Symbol, das auch die jüdische Gemeinde als Chanukkafest rund um die Adventszeit feiert. Chanukka erinnert an die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem vor mehr als 2000 Jahren. Die Menora, das ewige Licht, wäre beinahe erloschen. Es gab nur noch eine Flasche reines, heiliges Öl für einen einzigen Tag. Und da geschah das Wunder: diese eine Flasche, für den einen Tag, brannte acht Tage lang, bis das neue Öl fertig war.
Darum werden jedes Jahr acht Tage lang die Kerzen an der Chanukkia, dem neunarmigen Chanukka-Leuchter, angezündet. Am ersten Tag das erste Licht, bis schließlich am achten Tag alle Kerzen leuchten. Chanukka und Weihnachten – beide Feste erinnern uns mit ihrer Licht-Botschaft an Mitmenschlichkeit und Wärme, an gegenseitige Liebe und Glaubenstoleranz.
„Mache dich auf, werde licht“ – heißt es beim Propheten Jesaja.
Weil Gott in uns ein Licht entzündet hat, können wir auf ganz verschiedene Weisen selbst zu einem Licht für Andere werden. Da muss man auch nicht gleich leuchten und glänzen wie ein Weihnachtsbaum. Es genügt, ein kleines Licht zu sein. Denn eines haben alle Lichter gemeinsam, die großen und die kleinen: In ihnen scheint das Licht auf, das Gott in diese Welt hineingegeben hat. Machen auch wir uns auf den Weg zum Licht. Wie Maria und Josef, die Hirten und die Weisen.
Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest!
Marion Greve