Am 21. Februar 2012 drang die Frauen-Punk-Band Pussy Riots in der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche in den Altarraum ein und führte ein „Punk-Gebet“ auf. Das Gebet richtete sich gegen die enge und korrupte Verbindung von Staat und Kirche in Russland und gipfelte in dem lauten Ruf: „Heilige Mutter Gottes, vertreibe Putin!“
Der Auftritt dauerte genau 41 Sekunden, dann griff die Polizei ein und verhaftete die Frauen. Die russisch-orthodoxe Kirche verurteilte den Auftritt und unterstütze das Strafverfahren gegen die Band. Die Band habe religiöse Gefühle verletzt. Jekaterina Samuzewitsch, Nadeschda Tolokonnikowa und Marija Aljochina wurden im Sommer 2012 wegen „Rowdytums aus religiösem Hass“ zu je zwei Jahren Haft und Arbeitslager verurteilt.
Von heute aus betrachtet, erscheint der Auftritt von Pussy Riot prophetisch. Es gehört zum Wesen der Prophetie, dass sie Dinge ausspricht, die nicht gern gehört werden. Eine der Frauen sagte vor Gericht, die Religion müsse der Wahrheit dienen und nicht der Lüge. Wie wahr! Dort, in der Kathedrale, sagten die Frauen die Wahrheit über das russische System und über die Russisch-Orthodoxe Kirche: Dass sie beide der Lüge dienen – und nicht der Wahrheit.
Das Besondere an der Prophetie ist, dass sie Dinge sieht und ausspricht, die zwar gesehen werden KÖNNEN, von der Mehrheit einer Gesellschaft aber nicht gesehen WERDEN. So war es zu Zeiten der alttestamentlichen Prophetie, so war es in 2000 Jahren Geschichte des Christentums – bis hin zu Dietrich Bonhoeffer. Ist es nicht unfassbar, dass immer wieder in dieser Geschichte manche Kirchen und religiösen Institutionen sich exakt so aufführen wie jene, die den Rabbi aus Nazareth ans Messer lieferten?
Und sie argumentieren heute genauso wie damals – auch Jesus verletzte „religiöse Gefühle“, wenn er am Sabbat heilte und die frommen Gewissheiten seiner Zeit in Frage stellte. Aber das Unrecht und die Lüge zu rechtfertigen und ihre Aufrechterhaltung als Gottes Willen auszugeben – das ist die wahre Blasphemie, nicht der Auftritt einer Punkband in einer Kathedrale.
Im Nachhinein ist es einfach, den Prophet*innen in der Geschichte recht zugeben. Das Besondere aber ist es, IN der Zeit selbst die Wahrheit zu erkennen, die ausgesprochen wird und die für die Mehrheit vernebelt ist: Der Kaiser ist nackt!
Seit dem 24. Februar sind die Lügen der russischen Staatspropaganda und die mit ihr verbundenen Lügen der Russisch-Orthodoxen Kirche für die freie Welt offenbar geworden. Wir erkennen jetzt, wie sehr die russische Öffentlichkeit durch Fake-News und frei erfundene Behauptungen vernebelt wird – und wie gefährlich das ist. Immer absurder werden die Behauptungen, die der Lüge dienen.
Dort, in der Kathedrale, wurde vor zehn Jahren die Wahrheit ausgesprochen. Pussy Riot riefen damals zur Mutter Gottes, zu Maria. Das ist jene Frau, die in den großartigen Worten des Magnificat sagte: Gott stürzt die Mächtigen von den Thronen (Lukas 1,52).
So ist es. Gott stürzt die Mächtigen von ihren Thronen. Und sei es im Nachhinein: Noch jeder Tyrann muss einmal abdanken – spätestens, wenn er den Weg aller Menschen geht und diese Erde verlässt. Und kein noch so perfekt erlogenes Tyrannen-Denkmal hat in der Geschichte der Menschheit Bestand. Die Wahrheit kommt immer ans Licht, und so wird es auch Putin ergehen. Die Lüge bleibt nicht, am Ende wird die Wahrheit offenbar.
Bis dahin fordert die Lüge unzählige, unschuldige Opfer. Das ist die Tragödie. Deshalb stimme ich ein in den Ruf der mutigen Frauen von Pussy Riot: Heilige Mutter Gottes, vertreibe Putin! Und tu es bald!
Elisabeth Müller
Liebe Elisabeth, klare und erhellende Worte – wie so oft von Dir in solchen Situationen. Danke!.