Dallas in Texas. 3. Juni 2021. Eine Abiturientin hält eine Rede bei der Abschlussfeier ihrer Schule. Sie heißt Paxton Smith und ist die Beste ihres Jahrgangs. Allerdings sagt sie von ihrem Manuskript nur die ersten Sätze. Dann spricht sie frei. Am Anfang zögerlich und etwas stotternd, dann immer klarer:
Angesichts der jüngsten Ereignisse fühlt es sich falsch an, über etwas anderes zu sprechen als über das, was mich und Millionen andere Frauen in diesem Staat derzeit betrifft.
Diese „jüngsten Ereignisse“ – das sind neue Regelungen des Bundesstaats Texas. Sie verbieten einen Schwangerschaftsabbruch nach der 6. Woche in jedem Fall. Das ist so früh, dass die meisten Frauen zu diesem Zeitpunkt nicht einmal wissen, dass sie schwanger sind. Deshalb sagt Paxton weiter:
Ich habe Träume und Hoffnungen und Ambitionen. Jedes Mädchen, das heute seinen Abschluss bekommt, hat diese. Wir haben unser ganzes Leben damit verbracht, auf unsere Zukunft hinzuarbeiten, und ohne unseren Beitrag und ohne unsere Zustimmung wurde uns die Kontrolle über unsere Zukunft entzogen. Ich habe große Angst, dass, wenn meine Verhütungsmittel versagen, ich habe große Angst, dass, wenn ich vergewaltigt werde, dass dann meine Hoffnungen und Bemühungen und Träume für meine Zukunft nicht mehr relevant sein werden. Ich hoffe, Sie können nachempfinden, wie quälend es ist, ich hoffe, Sie können nachempfinden, wie entmenschlichend es ist, wenn man Ihnen die Autonomie über Ihren eigenen Körper wegnimmt. …
Es gibt in diesem Land einen Krieg gegen meinen Körper und einen Krieg gegen meine Rechte. Einen Krieg gegen die Rechte Eurer Mütter, einen Krieg gegen die Rechte Eurer Schwestern, einen Krieg gegen die Rechte Eurer Töchter.
Wir können nicht schweigen.“
(Quelle: https://www.spiegel.de/panorama/leute/paxton-smith-highschool-absolventin-aus-dallas-verurteilt-abtreibungsverbot-in-texas-a-971fd71c-be15-4d12-8bac-578d4d0c1995)
Was Paxton nicht weiß: Fast genau 50 Jahre vor ihrer Rede zur Abiturfeier – am 6. Juni 1971 – veröffentlichte der „Stern“ eine Ausgabe, in der 374 Frauen erklärten: Ich habe abgetrieben. Es ist heute nicht mehr vorstellbar, was das 1971 bedeutete. Jede einzelne dieser 374 Frauen bekannte nach damals geltendem Recht eine Straftat.
(Foto: Gruner + Jahr/STERN)
Was diese Kampagne öffentlich machte: Abtreibung war zwar verboten. Aber sie fand statt. Und zwar in viel höherer Zahl als heute. Schätzungen gehen von einer Million Schwangerschaftsabbrüchen aus – Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre. Wer Geld hatte, bekam eine hygienisch und medizinisch gute Versorgung. Wer nicht so viel zahlen konnte, war auf zweifelhafte Operationen mit ungewissem Ausgang angewiesen.
Die Stern-Geschichte eröffnete eine neue Diskussion. Das private Problem einer ungewollten Schwangerschaft wurde nun breit diskutiert. Und es ging dabei um mehr als eine ethische Frage. Es ging um die Frage der weiblichen Selbstbestimmung.
Ich wurde 1975 konfirmiert, und Abtreibung war DAS Thema im Konfi-Unterricht. Wir waren damals stolz auf unsere Kirche, weil sie nicht vernagelt war, nicht so simpel und moralsauer. Nicht frauenfeindlich.
Wie immer, sehen wir es nämlich in der evangelischen Kirche differenziert. Es gibt keine einheitliche, dogmatische Position, die für alle und jeden gilt. Und wie immer, ist das für die evangelische Kirche in gewisser Weise ein Nachteil, weil man sich ein bisschen anstrengen und nachdenken muss.
Zum einen ist der Blick differenziert hinsichtlich der Entstehung menschlichen Lebens. WANN Leben genau entsteht, ist nicht wirklich feststellbar. Wir können bestimmte Punkte setzen: Die Einnistung des befruchteten Eis in der Gebärmutter. Der Beginn eines eigenen Herzschlags. Die Ausbildung von Gliedmaßen. Die Lebensfähigkeit des Embryos außerhalb des Körpers der Mutter. Aber all das sind Entscheidungen, die wir nur theoretisch setzen.
Ähnlich wie am Ende des Lebens, wo der Hirntod auch nur einen Punkt angibt, an dem VIELLICHT das Leben endet – so ist es auch am Anfang.
In Wahrheit ist die Entstehung des Lebens fließend. Wir können nicht wirklich sagen: Ab da ist es ein Mensch.
Was wir aber sagen können, ist dies: Das werdende Leben kann nicht getrennt werden vom Leben und vom Körper der Mutter. Und die Existenz des werdenden Lebens kann nicht gegen den Willen der Mutter durchgesetzt werden. Wenn eine Frau eine ungewollte Schwangerschaft beenden will, dann bringt sie davon kein Gesetz der Welt ab.
Dies hier ist eine Weinraute. Sie wurde früher gern in Parks und öffentlichen Anlagen gepflanzt, wegen ihres starken Duftes und ihrer hübschen gelben Blüten.
Die Weinraute ist auch ein zuverlässiges Abtreibungsmittel. Vaginal eingeführt, hat sie Kontraktionen der Gebärmutter und Blutungen zur Folge. Es kommt ziemlich sicher zu einer Fehlgeburt. Begleitet von starken Schmerzen und Blutungen – aber sicherer als viele andere Methoden – vor allem, wenn unsterile Instrumente benutzt werden oder Verletzungen der Gebärmutter stattfinden können.
Ein Bericht aus dem Paris des 19. Jahrhunderts erzählt uns, dass die mit Weinraute bepflanzten Beete in den öffentlichen Parks des Nachts in großer Zahl geplündert wurden. Komplette Beete wurden in einer einzigen Nacht abgeschnitten. Die Weinraute war so beliebt, dass man in Paris dazu überging, die Beete mit Maschendraht zu überbauen. Es half aber nichts, der Draht wurde zerschnitten und die Pflanze geerntet.
(Foto: Deutsches Historisches Museum)
Dieses Plakat hat Käthe Kollwitz 1924 im Auftrag der KPD entworfen.: „Nieder mit dem Abtreibungsparagraphen“.
Seit 1871 gab es diesen Abtreibungsparagraphen, den Paragraphen 218 – wie er noch heute heißt. Als der STERN sein Heft mit den 374 Frauen druckte, war der Paragraph genau 100 Jahre alt. Und als Paxton Smith kürzlich ihre Rede hielt, hatte er schon 150 Jahre auf dem Buckel.
„Nieder mit dem Abtreibungsparagraphen“. Der 218 blieb dennoch. Er überlebte auch die Stürme der 70er Jahre. Er blieb. Allerdings: Unter bestimmten Umständen und nach Beratungszwang wurde ein Abbruch der Schwangerschaft bis zur 12. Woche straflos. Seitdem ist viel Zeit vergangen. Der 218 blieb – mit der sogenannten Indikationslösung.
Wir haben inzwischen in Deutschland seit Jahren, auf niedrigem Niveau, eine relativ stabile Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen: 100.000 pro Jahr. Eigentlich kein großes Thema mehr.
In letzter Zeit hat nun vor allem der Nebenparagraph des 218 – der Pargraph 219a – für eine neue Debatte gesorgt. Eine Ärztin in Gießen hat auf ihrer Homepage erklärt, mit welchen gynäkologischen Methoden sie eine Schwangerschaft beendet. Das ist eigentlich nicht ungewöhnlich. Der deutsche Ärztebund hat dazu gesagt, dass Informationen über eine Knie-OP auch keine Werbung für diese Operation seien – sondern dass es für Patienten und Patientinnen einfach wichtig sei, sich über medizinische Eingriffe zu informieren. Es hat nichts genutzt.
Denn wir reden über Abtreibung. Und da gelten keine normalen Maßstäbe. Die Ärztin in Gießen wurde verklagt. Und dieser Vorgang brachte eigentlich erst so richtig ins allgemeine Gedächtnis, dass Abtreibung in Deutschland noch immer im Strafgesetzbuch steht. Und: Wir sind das letzte westeuropäische Land, in dem das so ist. Alle anderen Länder im westlichen Europa haben in den vergangenen Jahrzehnten nach und nach den Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch genommen – selbst das katholische Irland.
Ich habe im vergangenen Jahr einen Film gesehen über einen jungen Mann. Er ist einer derjenigen, die die Ärztin in Gießen verklagt haben. Er hat nur ein einziges Hobby: Frauen und Ärzte zu verklagen, die irgendwie im Zusammenhang mit Abtreibung rechtlich zu belangen sind. Seine gesamte Freizeit verbringt er im Internet. Er sucht Spuren von Abtreibung. Er hat sich zum Ziel gesetzt, Frauen eine Abtreibung unmöglich zu machen – wo immer er kann und sich die Gelegenheit ergibt. Er sagt, Frauen haben kein Recht dazu, den Samen, der in sie eingepflanzt wird, nicht anzunehmen.
Der junge Mann macht eins deutlich: Den radikalen Abtreibungsgegnern geht es nicht um Liebe zu Kindern. Es geht um Hass auf Frauen. Und zwar Hass auf Frauen, die selbstbestimmt leben wollen. Mit Liebe – ob nun zu Kindern oder zu Menschen im Allgemeinen – hat das nicht viel zu tun.
Als Gemeindepfarrerin habe ich junge Frauen beraten, die ich durch die Jugendarbeit der Gemeinde kenne und die ungewollt schwanger wurden. Die jungen Menschen sind heute gut aufgeklärt und wissen viel über Verhütung. Aber es gibt eben Pannen. Die Entscheidung ist dann nicht leicht – vor allem nicht für Frauen, die aus unserer Jugendarbeit kommen und sich als Christin verstehen. Es ist ein schwerer Prozess.
Dann habe ich hin und wieder mit Frauen mittleren Alters eine Trauerfeier für ein Kind durchgeführt, das nicht geboren wurde, weil die Frau die Schwangerschaft beendet hat.
Eins kann ich an dieser Stelle sagen: Ich hatte noch nie mit einer Frau zu tun, die „leichtfertig“ mit einem Schwangerschaftsabbruch umgegangen wäre. Die berühmte „Schlampe“, von der die Befürworter des 218 so gerne sprechen – die ist mir nie begegnet.
Die Frauen wissen meistens genau, wie alt das Kind jetzt wäre, sie denken jedes Jahr an den Geburtstermin. Oft haben sie ein klares Bild von einem Mädchen oder einem Jungen. Viele nennen das ungeborene Kind mit Namen. Manche sagen, sie halten es manchmal an der Hand. Ich würde sagen: Die Frauen leben für immer mit einem Kind, das nie zur Welt gekommen ist. Das heißt aber nicht, dass die Frauen sagen: Ich bereue es. Oder: Ich würde es jetzt anders entscheiden.
Es geht nicht um ein Hadern mit der Entscheidung. Es geht um die Trauer. Sie ist eine Folge des Dilemmas, in dem eine Frau sich befindet, die ungewollt schwanger wird. Ein Dilemma ist eine Situation, in der es keine eindeutige Lösung gibt. Das ist das Wesen des Dilemmas. Die evangelische Theologie bewertet das ethische Dilemma daher als eine Situation der Abwägung zwischen zwei Lösungen, die beide Vor- und Nachteile haben. Keine der Lösungen ist nur gut, keine ist nur schlecht. Eine „richtige“ Entscheidung, bei der man sozusagen „eine weiße Weste“ behält – die gibt es beim Dilemma nicht. Andere Menschen können beraten und beistehen. Aber die Entscheidung muss die jeweilige Person treffen. Sie muss es verantworten. Sie muss es mit ihrem Gewissen abmachen.
Das ist es, wofür die Reformation gekämpft hat. Biblisch steht dafür der Satz Jesu: Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat (Markus 2,27). Das heißt: Wir Menschen sind nicht dafür da, Lehren und Dogmen zu dienen. Es geht nicht um das blinde Befolgen von religiösen Vorgaben. Nein: Die Lehre der Kirche muss uns helfen, unser Leben gut zu leben. Sie kann uns eben beraten und beistehen. Aber keine Kirche der Welt kann mir eine Gewissenentscheidung abnehmen.
Deshalb trauen wir in der evangelischen Kirche einer Frau diese Entscheidung auch zu. Wir halten sie für fähig, wesentliche Entscheidungen ihres Lebens selbst zu treffen – auch die Entscheidung über die Fortführung einer ungewollten Schwangerschaft – oder über ihren Abbruch. Wir sehen das ungeborene Leben als etwas, das nur im Zusammenhang mit der Mutter und nur IN ihrem Körper leben und sich entwickeln kann. Und daher glauben wir auch nicht, dass ein solches Leben gegen den Willen der Mutter oder gar durch Zwang fortbestehen kann. Das ist die evangelische Position. Sie wird nicht von allen geteilt, es gibt konservative Kräfte, die das anders sehen. Aber es ist die mehrheitliche Position.
Das Dilemma hat für die Frauen zur Folge, dass sie zunächst alle Energie aufbringen müssen, um die Entscheidung für den Abbruch der Schwangerschaft in die Tat umzusetzen.
Aber das Dilemma hat ja immer zwei Seiten, sonst wäre es kein Dilemma. Und das Andere, die zweite Seite in den Frauen, das ist die Trauer. Wie gesagt: Es ist NICHT ein Bereuen. Es ist die andere Seite der Entscheidung. Indem ich mit den Frauen dieser Trauer Raum gebe, können die Frauen das Zwiespältige zulassen. Sie können der Trauer in ihrem Leben einen Platz geben.
Ich persönlich bin nicht gegen Abtreibung. Ich bin auch nicht grundsätzlich dafür. Weder finde ich, dass ein Schwangerschaftsabbruch wie das Ziehen eines Zahns ist – noch denke ich, dass wir es „Mord“ nennen dürfen. Ich bin der Meinung, dass eine Frau ohne Druck und ohne Indoktrination entscheiden können MUSS. Und dafür ist der Paragraph 218 ein Hindernis. Er gehört ersatzlos gestrichen und der 219 gleich mit.
Die Androhung von Strafe verhindert keine einzige Abtreibung. Das ethische Dilemma gehört nicht vor ein Gericht. Die Begleitung der betroffenen Frauen gehört in die Hände von Seelsorgerinnen, Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen. Sie gehört in die Familien, in die Gespräche mit Freundinnen und in die Partnerschaften mit den beteiligten Männern. Sie gehört in die Gemeinde – in eine Kirche, die Frauen ernstnimmt und das Selbstbestimmungsrecht ihres Körpers und ihre Würde achtet.
Eine alte Dame ruft mich an. Ich habe vor einigen Monaten ihren einzigen Sohn beerdigt, er ist mit Mitte Fünfzig gestorben. Sie bittet um einen Besuch, sie möchte gern mit mir reden. Als ich sie besuche, erzählt sie mir, dass es eigentlich noch ein zweites Kind gegeben habe. Sie war ein weiteres Mal schwanger – aber diese Schwangerschaft hat sie durch eine Abtreibung beendet. „Ich habe es nächte- und tagelang mit meinem Mann besprochen,“ sagt sie. „Es ging einfach nicht. Wir wohnten in einem einzigen Zimmer, und ich hatte doch gerade schon ein Kind bekommen, und mein Mann studierte noch. Es war ein Alptraum.“
Das war vor 1975, also vor der Gesetzesänderung. Damals fuhren viele Frauen aus Deutschland nach Holland, wo die Unterbrechung der Schwangerschaft legal war, aber privat bezahlt werden musste. So war es auch bei der alten Dame gewesen. Von Essen aus ist Holland gut erreichbar.
Das Ehepaar lieh sich das nötige Geld von Freunden und zusammen fuhren sie frühmorgens nach Holland, der Eingriff fand statt, und dann ging es wieder nach Essen. An einem Tag war alles erledigt. Die Schwester der Frau passte aufs Kind auf. Sonst wusste niemand davon. „Ich habe nie wieder darüber gesprochen“, sagt sie zu mir. Und das, das habe ich öfter gehört. Etliche Frauen aus Haarzopf sind damals nach Holland gefahren. Und der Satz „Ich habe nie wieder darüber gesprochen“ – den kenne ich.
Ja – und dann sagt mir die alte Dame: „Ich habe Angst, dass es meine Schuld ist.“ Ich verstehe nicht, was sie meint und frage nach. „Ich habe Angst, dass Gott mir meinen Sohn genommen hat, um mich für die Abtreibung zu bestrafen,“ sagt sie. „Ein Leben für ein anderes“, sagt sie. Das hätte neulich ein Pfarrer im Fernsehen gesagt.
Es stellt sich heraus, dass sie eine Sendung auf einem privaten Kanal gesehen hat. Da hat ein Pfarrer verkündet, Abtreibung sei eine Sünde und werde von Gott bestraft, und zwar so, dass ein anderes Kind für den Tod eines abgetriebenen Kindes büßen müsse: ein Leben für ein anderes eben. Den schuldigen Eltern werde zur Strafe für die begangene Sünde ein Kind genommen.
Ich frage: „Wenn Gott Sie bestrafen will, warum tötet er denn dann Ihren Sohn? Dann würde doch Gott sich schuldig machen? Welchen Sinn soll so eine Rache haben?“
Ich spreche lange mit der alten Dame. Am Ende sage ich ihr: „Wenn Gott so wäre, wie der Pfarrer im Fernsehen es sagt, dann würde ich auf der Stelle kündigen. Für so jemand kann man doch nicht arbeiten!“ Sie lacht. Sie ist erleichtert. Als ich mich verabschiede, geht es ihr besser.
Wir haben zusammen gebetet. Wir haben alles in die Hände Gottes gelegt. Wir haben uns vergewissert, dass Gott Liebe ist. Aber der Satz dieses Fernseh-Predigers hat sich tief in ihre Seele gebohrt: Ein Leben für ein anderes. Und ich fahre nach Hause und frage mich: Wer ist hier gewissenlos?
Elisabeth Müller