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An den Freund Hermann Reineck, Auschwitzhäftling Nr. 63.387

Hermann Reineck

Hermann Reineck

Lieber Hermann,

es ist jetzt schon fast 35 Jahre her, dass ich Dir begegnet bin, und du bist schon vor 20 Jahren gestorben. Wir haben uns Briefe geschickt, jetzt kommt noch ein verspäteter dazu. Dass ich Dich „Freund“ nenne, erschreckt mich fast. Es gab etwas unüberwindbar Fremdes, Anderes in Dir, an dem ich nur von außen teilnehmen konnte. Du warst Auschwitzhäftling.
Es war kaum auszuhalten, was Du mir alles erzählt hast, als wir während der langen Busfahrt nach Auschwitz unterwegs waren. Ich hatte Dir, dem Menschen aus dem politischen Widerstand in Österreich, erzählt, dass ich als junger Student in Wien einen ganzen Tag mit Übelkeit zu kämpfen hatte, als ich zum ersten Mal in der Universitätsbibliothek von den Gräueln in Auschwitz gelesen hatte, zu einer Zeit, als in Deutschland noch ein großes Schweigen herrschte. Ich habe danach viel zu Auschwitz gelesen.
Du aber ließest nicht locker: Du wolltest mich mit nichts verschonen. Deine Schreckensberichte aus dem Strafbataillon mag ich bis heute nicht wiedergeben. Wir übernachteten im selben Zimmer in Krakau. Du sagtest: „Ich brauche einen, der mir zuhört.“ Ich habe von Dir erfahren, wie die geheime politische Widerstandsgruppe Dir zu einer Versetzung in die Schreibstube im Krankenbau verholfen hat, wo Du massenweise fingierte Todesursachen schreiben musstest. Einen schwerkranken politischen Freund hast Du dort wochenlang vor der Selektion für die Gaskammer bewahrt, indem Du Karteikarten vertauschtest. Dann kam die geheime Anweisung: Wir können ihn nicht mehr halten, es ist zu gefährlich. Da habest Du ihn freigeben müssen. Der letzte Blick, den der Freund dir beim Abtransport zugeworfen habe, das sei fast das Schlimmste in deiner Erinnerung.
Beim Gang durch das Stammlager zeigtest Du mir im Todesblock 11 die Stehbunker und den Hungerbunker, in dem auch Maximilian Kolbe freiwillig starb, mit dem von Fingernägeln zerkratzten Türrahmen. Du erzähltest, wie die „Todeswand“ nach den Massenerschießungen aussah. Immer waren es Menschen, die vor meinen Augen standen, und einer, der es überlebt hatte: Du.
In Birkenau, wo nur noch Bahngleise und gesprengte Krematorien zu sehen sind,
hobst Du eine Handvoll Erde auf, gabst sie in meine Hand und sagtest: „Du hältst jetzt die Überreste von 10.000 Menschen. Lege sie ehrfürchtig zurück.“

Lieber Hermann, Auschwitz war dein Lebensthema. Du musstest immer wieder dort hin fahren. Du gründetest die „Lagergemeinschaft Auschwitz/Freundeskreis der Auschwitzer“. Du bist ein Beispiel des Lebenswillens und des Widerstandes. Du hast mir ein wichtiges Lebensthema mitgegeben, das ich mit Schülern in Oberstufenkursen, mit Konfirmanden und mit Erwachsenen erleben und an sie weitergeben wollte. Danke!

Dieter Schermeier

Hermann Reineck wurde am 9. Januar 1919 geboren und im September 1942 als politischer Häftling mit dem Vermerk „Rückkehr unerwünscht“ nach Auschwitz deportiert. Als er im November 1944 entlassen wurde, kam er zusammen mit anderen reichsdeutschen Häftlingen zur „Einheit Dirlewanger“, einer berüchtigten SS-Sondereinheit, die in Polen und der Slowakei bei der „Partisanenbekämpfung“ eingesetzt wurde und eine Reihe grausamer Kriegsverbrechen beging. Nach etwa einem Monat konnte Reinecke desertierten, schlug sich nach Österreich durch und schloss sich einer Widerstandsgruppe an. 1964 war er Zeuge im Frankfurter Auschwitz-Prozess. Hermann Reineck starb am 29. Dezember 1995. Informationen über seinen Lebensweg stehen auf der Seite der Lagergemeinschaft Auschwitz/Freundeskreis der Auschwitzer und auch auf Seite über den Frankfurter Auschwitz-Prozess. Der Autor dieses Beitrags, Pfarrer i.R. Dieter Schermeier aus der Evangelischen Kirchengemeinde Bergerhausen, war vor fast 35 Jahren mit der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste in Auschwitz und hat Hermann Reineck auf dieser Fahrt getroffen.