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In Gottes Arme fallen | In Zeiten von Corona #14

Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? (Jeremia 8,4) – Jesus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. (Johannes 6,37) | Herrnhuter Tageslosung für den 30. März 2020

Menschliches Leben ist geprägt von Bewegung. Beweglichkeit ist von Anfang an gefragt. Mit Ungeduld erwarten Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder; auf eigenen Füßen zu stehen, ist das Ziel heutiger Erziehung. Beweglichkeit – Mobilität und Flexibilität – sind hohe Werte unserer Gesellschaft. Wer nicht in Bewegung bleibt, kann nicht mehr mithalten. Die Angst davor sitzt bei vielen Menschen tief. Das Gehen prägt also unser Leben. Aber zum Gehen gehört immer auch das Fallen. Darüber redet unsere Tageslosung.

Beim Kleinkind, das auf seinen Windelpopo fällt, finden wir das drollig. Kommen Erwachsene an den unterschiedlichsten Herausforderungen des Lebens zu Fall und bleiben auf der Strecke, ist das eine Tragödie : die falsche Berufsentscheidung, die jeden Arbeitstag sich anfühlen lässt wie eine Falle, der Hochmut, der vor dem Fall kommt und zu einem einsamen Menschen macht, die Sucht, die in kürzester Zeit einen Menschen fällen kann wie einen Baum.

Die Weltgeschichte ist voll Sündenfällen. Vom ersten an, als es Adam und Eva um die Emanzipation ging, sie aber an ihrer Grandiosität böse scheiterten, bis zu gut gemeinten Revolutionen, die ihre Kinder fraßen. Der Lauf der Welt ist voller Blut, Schmerz und Grauen. Unzählige Gräber von gefallenen Soldaten zeugen davon durch die Jahrtausende. Schließlich: der Lauf des Lebens führt zielstrebig in den Tod. Jenes zu Boden Gehen, von dem niemand mehr aufsteht.

Im Zusammenhang mit Jesus wird von Fällen erzählt, die gut ausgegangen sind. Ein Mann, der sich 38 Jahre lang vor lauter Selbstmitleid nicht bewegen konnte, wird auf Trapp gebracht. Dem feigen Großmaul Petrus wird die Verantwortung für die Jesusbewegung übertragen, damit hier nie mehr vergessen wird, wie fallträchtig das Leben ist und wie bedürftig wir alle sind. Maria aus Magdala, die das Leben arg durchgeschüttelt hatte, bekommt Boden unter ihren Füßen, als sie Jesus begegnet, und entwickelt die charismatische Klarsicht, in der unser Glaube wurzelt: Jesus ist auferstanden! Der egoistische Winzling Zachäus wird auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und kann fortan richtig von falsch unterscheiden. Sie alle sind gefallene Menschen und – vielleicht gerade darum – fallen sie in die Arme Gottes.

Wir dürfen hoffen, dass das dann ganz ähnlich so der Fall sein wird, wenn es uns passiert: wenn wir in die Irre gegangen und uns verrannt haben, oder gestolpert sind und alleine nicht mehr auf die Beine kommen. Gott wird dann da sein und uns abfangen und aufhelfen. Es wird übrigens erzählt, dass Gott gerade solchen in die Quere kommt, die sich schon aufgegeben haben. Wie es den desillusionierten Männern aus Emmaus geschah, die sich nach Hause schleppten und denen Jesus eine Wegzehrung zubereitete, die sie den Sinn im Sinnlosen entdecken ließ. Ostern will es werden, nach jedem Zusammenbruch des Lebens.

Dass sie in die Arme Gottes gefallen sind, bemerken Menschen zum Beispiel daran, dass ihnen – oft nach langer, anstrengender Therapie – eine wertschätzende Sicht auf sich selbst gelingt oder sie es schaffen, Traumata anzugehen, die ihre Beziehungsfähigkeit hemmen, oder sie in eine Gangart kommen, die Freizeit und Arbeit gut ausbalanciert.

Wo Gott uns umfängt, wird zudem ein aufrechter Gang möglich. Töchter und Söhne Gottes müssen nicht immerzu beschämt oder belastet ihre Rücken beugen. Sie brauchen nicht immerzu nur den Staub der Vergänglichkeit im Auge haben, sondern dürfen ihren Blick in den Himmel gerichtet sein lassen, zur Wohnstatt des Ewigen. Sie sind berufen, selbstständig und selbstbewusst, leidenschaftlich und neugierig in der Welt unterwegs zu sein, und bekommen so einen Blick für die Mitmenschen, die neben ihnen gehen oder hinter ihnen oder vor ihnen und die etwas von ihnen brauchen, damit es ihnen gut geht.

Auch auf mich ist Gott zugegangen in der bisher dunkelsten Fall-Geschichte meines Lebens. Als ich mich vom Vater meiner Kinder trennte und ihnen ihre heile Welt zerstörte und wissentlich mein Wort brach, das ich auch vor Gott gegeben hatte, sagten mir die Frommen in der Gemeinde, ich hätte das Recht verwirkt, je wieder erhobenen Hauptes durch die Stadt zu gehen, und ich stimmte ihnen zu. Aber noch nie zuvor und bislang auch nie mehr habe ich Gottes Begleitung so intensiv gespürt und war seiner mich bejahenden vergebenden Liebe so sicher wie in dieser Zeit. Seitdem weiß ich, dass Dietrich Bonhoeffer recht hat mit der Behauptung, Gott sei es nicht schwerer, mit unseren Fehlern und Irrtümern fertig zu werden, als mit unsern vermeintlichen Guttaten.

Es gibt Zeiten, da dürfen wir nicht fallen. Da müssen wir Position beziehen. „Hier steh ich nun und kann nicht anders“, soll Martin Luther gesagt haben, als es darum ging, dafür gerade zu stehen, dass die Liebe die einzige Wahrheit über Gott ist. Viele Frauen und Männer der Bekennenden Kirche (und nicht nur sie) mussten für ihren Standpunkt, dass die nationalsozialistische Herrschaft Teufelswerk ist, massive Nachteile und – wie Dietrich Bonhoeffer – den Tod erleiden.

Es kann sein, dass von uns in Corona-Zeiten kleine Konfessionen erwartet werden. Zum Beispiel gibt es schon die ersten Stimmen, die öffentlich auf die Aufhebung der Kontaktsperre drängen, damit Fußballspiele und andere Sportwettkämpfe wieder möglich werden. Was zählt das Leben der alten Leute, die – bei zu früher Rückkehr zur Normalität – dies mit dem Leben zu zahlen hätten, gegen das große Geld, das es im Sport zu verdienen gibt? Ich will nie so tief fallen, dass mir dazu nicht die einzig richtige Antwort einfällt.

Bleiben Sie behütet.

Anke Augustin