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Zur Familie Gottes gehören | In Zeiten von Corona #12

Der Herr hat Gefallen an denen, die ihn fürchten, die auf seine Güte hoffen. (Psalm 147,11) – Jesus spricht: Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. (Markus 3,35) | Herrnhuter Tageslosung für den 28. März 2020

„Liebe das Mutterherz, solange es noch schlägt, ist es gebrochen, so ist es zu spät“ – das stand auf einem Holzbildchen in der Küche meines Elternhauses. Kitschiges Naturmotiv mit Grabhügel, Urlaubsmitbringsel aus Österreich – und für mich Quelle so mancher Not.

Du brichst deiner Mutter das Herz, wenn du… – wie oft hatte ich das gehört. Wenn ich als kleines Mädchen zu anderen Kindern nach Hause zum Spielen gehen wollte, aber meine ängstliche Mutter vor Sorge fast starb, ob ich den Weg dahin überleben würde , oder wenn ich als Jugendliche in die Disko wollte und meine Mutter Panik hatte vor Drogenhändlern, die mich anfixen würden oder wenn es keine Eins geworden war in der Klassenarbeit – immer hatte ich meine Mutter fast auf dem Gewissen. Ihren Stress betäubte sie mit Tavor, und ich war schuld, dass es ihr so schlecht ging. Das wirst du noch bereuen – meinte meine Oma, die bei uns wohnte – und zeigte auf das Holzbildchen in der Küche.

Als Seelsorgerin im Gefängnis habe ich miterlebt, wie eine falsch verstandene Familienloyalität junge Männer aus Migrationsfamilien ins Unglück getrieben hat. Manche haben Schmiere gestanden bei den Einbrüchen der Onkels oder die gestohlene Ware dann verhehlt; einer hatte einen „Ehrenmord“ begangen. Alles im – ausgesprochenen oder unausgesprochenen – Auftrag der Familie.

Als Seelsorgerin erlebe ich heute, dass Töchter und Schwiegertöchter weit über die Grenzen ihrer Belastbarkeit hinausgehen und lieber selber krank werden oder kein eigenes Leben mehr haben, als ihre Eltern in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen. Brave Töchter, die mit dem Verbot aufgewachsen sind, sich selbst wichtiger nehmen zu dürfen als die Familienpflichten.

Deshalb ist mir die Geschichte, aus der unsere Tageslosung stammt, sehr wertvoll: Vermutlich hat Maria auch versucht, Jesus ins Gewissen zu reden, dass das, was er da gerade macht, ihr das Herz bricht; dass er nach Hause kommen soll statt mit fremden Leuten umherzuziehen, dass er sich zu allererst um seine Familie zu kümmern hätte – wie alle guten Söhne. Aber Jesus hat nein gesagt und stand – zumindest zeitweise – in einem äußerst angespannten Verhältnis zu seinen Eltern und Geschwistern. Insgesamt: Er verstößt in skandalöser Weise gegen all das, was Frömmigkeit und Sitte vorschreiben. Sein Anspruch spaltet Familien und bringt die Mitglieder gegeneinander auf (vgl. dazu z.B. Lukas 11,49-53).

Bei Jesus trat an die Stelle der Herkunftsfamilie die Jesusbewegung als neue Familie Gottes. Wer dazu gehören wollte, hat ein entbehrungsreiches Leben auf Wanderschaft gewählt. Alle Sicherheiten eines bürgerlichen Familienlebens wurden ihm verwehrt: Stab, Brottasche, Geld, Sandalen, ein zweites Kleid zum Wechseln und die Erlaubnis, sich gastlich versorgen zu lassen. Sogar die Pietät galt nicht mehr: die Ausrichtung der Bestattung für ein Familienmitglied war nicht erlaubt. Solches Verhalten nennt Jesus: den Willen Gottes tun. Die, die sich Jesus anschlossen, machten mit, weil sie dem fürsorglichen Schöpfergott vertrauten, dessen Herrschaft sich durchsetzen wird – so wie Jesus es predigte und tat.

Für mich ist solches Verhalten nicht mehr möglich. Und statt der radikalen Jesusnachfolge habe ich eine verbeamtete Pfarrstelle gewählt, um meine Überzeugung vom „guten Gott mit uns“ weiterzugeben. Ich hoffe, auch so zur Familie Gottes zu gehören.

Auch bin ich mit den Jahren milder geworden mit meiner Kritik an familiären Loyalitäten und Verpflichtungen. Ich habe mittlerweile selbst Kinder und Enkel und spüre, dass die Verlustangst hier riesig ist und die Versuchung groß, auch mit manipulativen Mitteln zu agieren. Ich hoffe aber, dass ich meinen Kindern die Erlaubnis mitgegeben habe, ihre Wege frei zu wählen, nur in der Verpflichtung ihrem eigenen Inneren gegenüber. Für mein Wohl bin ich selbst zuständig, das ist der nicht der Job meiner Familienangehörigen – weder meiner Kinder noch meines Partners.

Mein Glaube, Familienmitglied Gottes zu sein, hat entschieden dazu beigetragen, eine fordernde Anspruchshaltung gegenüber meinen Angehörigen selbstkritisch zu kontrollieren. Auf Gottes Güte darf ich hoffen, seiner väterlichen Begleitung und mütterlichen Fürsorge will ich vertrauen. Das reduziert die Angst und stärkt die Zuversicht. Das ist Kraftquelle im Stress. Und die beste Art der Selbstsorge. Ich glaube, auch meine Kinder werden hier dankbar einstimmen.

Übrigens: Maria hat schließlich auch verstanden, warum es Jesus ging. Nach Ostern lebte sie bei Jesu Wahlfamilie, im Jerusalemer Jüngerkreis. Mit dabei auch Jesu Brüder Jakobus und Judas. Auch das wieder: so grundsätzlich.

Auch heute wieder die Frage: was hat das mit den Zeiten von Corona zu tun? Vor ein paar Tagen war die Schlagzeile der BILD-Zeitung: „Gott schütze unsere Heimat“. Ein Zitat des bayrischen Ministerpräsidenten. In der ganzen Welt sterben Menschen am Corona-Virus. Global werden wir vor Herausforderungen gestellt, die wir sicher nur gemeinsam meistern können. Und dann dieser Ausspruch, der Assoziationen weckt bestenfalls an Vereinskultur, schlimmstenfalls an Kriegsrhetorik; der Gott vereinnahmt für einen Miniteil seiner großen Menschheitsfamilie. Mir hat das nicht das Herz gebrochen – mir ist einfach nur schlecht geworden. Ich denke, Gott auch.

Bleiben Sie behütet.

Anke Augustin