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Kleine Fische, große Wirkung

Die geschwisterliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. Seid eines Sinnes untereinander. (Römer 12,9-16)

Ungewohnt. Wir sitzen doch sonst in Reihen hintereinander. In der Kirche haben manche sogar ihre Lieblings-Bank. Ihren festen Platz. Hier, im Gemeindesaal, ist natürlich sowieso alles anders – und jetzt sitzen wir auch noch im Kreis. Die Sitzordnung heute ist wie eine Auslegung unseres Textes aus dem Römerbrief: Um sich mit dem anderen freuen zu können oder um mit dem anderen weinen zu können – muss ich ihn sehen. Muss ich ihm oder ihr ins Gesicht sehen können. Dann sehe ich vielleicht, dass Frau X. heute gar nicht so munter lächelt wie sonst. Oder bemerke, dass  Herr Y. ein bisschen blass ist. Und ich kann fragen: Was ist los? Wie geht’s? Ist was passiert? Einander sehen, einander wahrnehmen. „Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor“ – das gelingt dann vielleicht.

Der Raum, in dem wir Gottesdienst feiern, erzählt viel darüber, wie wir uns als Gemeinde verstehen. Oder vielleicht verrät er erst einmal viel darüber, wie Gemeinde gedacht wurde zu der Zeit, als dieser Raum gebaut wurde. Unsere Kirche am Markt ist eine klassische Predigtkirche. Die Bänke dicht an dicht, nach vorne ausgerichtet. Vorne, im Zentrum, der Kanzelkorb – Ort der Predigt. Den großen Altar gab es ja lange nicht, erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam er dazu. Zuvor stand dort ein kleines Abendmahlstischchen unter dem Kanzelkorb.

Der Kirchraum war also vor allem als „Hörsaal“ gedacht – nichts sollte ablenken vom Hören auf das Wort Gottes, auch nicht der Blick in das Gesicht der anderen. Vorne stand der Pfarrer, heute auch die Pfarrerin. Einer, eine redet – alle anderen hören zu. Schwierig, sich so als Gemeinde, als Gemeinschaft zu erleben. „Wir feiern miteinander Gottesdienst“ – fühlt sich ganz anders an, wenn ich sehe, mit wem ich da feiere…

Wie wollen wir als Gemeinde Gottesdienst feiern? Wie sind wir Gemeinde? Das beantworten wir auch damit, wie wir die Bänke und Stühle zum Gottesdienst stellen.

„Das Leben der Gemeinde“ – so ist der Abschnitt im Brief des Paulus in der Bibel überschrieben. „Erzählen Sie mal etwas über Ihre Gemeinde“ werden Sie vielleicht auch einmal gefragt und dann beginnen wir aufzuzählen, dass wir als Gemeinde drei Kindertagesstätten haben, ein Jugendzentrum, eine Kantorei und große, oratorische Konzerte. Wir erzählen von unserer alten Kirche, in der gerade die Decke renoviert wird, so dass wir unsere Gottesdienste hier im Gemeindesaal feiern. Und von Häusern, die in den vergangenen Jahren verkauft und abgerissen wurden. Bonhoefferhaus, Tersteegenhaus, Arndthaus.

Auch von Begegnungen können wir erzählen: Von den vielen Besuchen, die in unserer Gemeinde stattfinden bei Kranken und Nachbarn, die allein sind. Der anregende Austausch im Frauen-Gesprächskreis „angedacht“. Wie schön das Erleben von fröhlicher Gemeinschaft in 60plus ist. Wir könnten erzählen von Familien, die in den Kindertagesstätten Unterstützung und Beratung erleben. Oder von Eltern, die im Anschluss an die Kinderkirche gemeinsam Kaffee, Tee trinken und sich Frust von der Seele reden.

Das Leben in der Gemeinde. Paulus sagt dazu: Verliert einander nicht aus dem Blick. Begegnet euch mit Aufmerksamkeit und Fürsorge. Übt Gastfreundschaft – ladet euch ruhig mal ein. Und seid fröhlich – und geduldig. Ich möchte die Verse aus Römer 12 gerne mit einem Abschnitt aus Matthäus 13,13-20 ergänzen:

„Als das Jesus hörte, entwich er von dort in einem Boot in eine einsame Gegend allein. Und als das Volk das hörte, folgte es ihm zu Fuß aus den Städten. Und Jesus stieg aus und sah die große Menge; und sie jammerten ihn und er heilte ihre Kranken. Am Abend aber traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Die Stätte ist einsam, und die Nacht bricht herein; lass das Volk gehen, damit sie in die Dörfer gehen und sich zu essen kaufen.

Aber Jesus sprach zu ihnen: Es ist nicht nötig, dass sie fortgehen; gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen zu ihm: Wir haben nichts. Wir haben nichts als fünf Brote und zwei Fische. Und er sprach: Bringt sie mir her! Und er ließ das Volk sich lagern auf das Gras und nahm die fünf Brote und die zwei Fische, sah auf zum Himmel, dankte und brach’s und gab die Brote den Jüngern, und die Jünger gaben sie dem Volk. Und sie aßen alle und wurden satt und sammelten auf, was an Brocken übrig blieb, zwölf Körbe voll.“

Jesus sieht die Menge der Menschen und sie jammern ihn. Er heilt ihre Kranken, spricht zu ihnen, lehrt sie. Der Abend bricht herein. Jesus hat großes Zutrauen zu seinen Jüngern, er sagt: „Wir müssen die Leute nicht fortschicken. Gebt ihr ihnen zu essen. Und die Reaktion der Jünger? Wir haben nichts. Wir haben nichts als fünf Brote und zwei Fische Das, was wir zu geben haben, reicht nicht!!!

Der Blick auf eine große Menge an Menschen, Menschen, die Sorgen haben, die in Not sind – wir sehen sie in unsrer Nachbarschaft, Familie – oder Menschen, mit denen wir beruflich zu tun haben. Das Weltgeschehen ist eine unfassbare Menge an erschreckenden, besorgniserregenden Nachrichten. Wir legen die Zeitung beiseite oder machen das Fernsehen aus, weil wir es nicht mehr hören können. Viele Menschen in den USA werden depressiv, weil sie sich einem Politikbetrieb ausgeliefert fühlen, den sie ganz schrecklich finden und weil sie das Gefühl haben, nichts dagegen tun zu können. Auch bei uns nimmt die Politikverdrossenheit zu, die Menschen gehen gar nicht mehr zur Wahl oder wählen Parteien von Rechtsaußen, weil sie den anderen einen Denkzettel verpassen wollen. „Ich kann nichts machen“, „Was soll das schon bringen“ ist oft zu hören.

Und damit sind wir wieder bei den Jüngern am See Genezareth: Das, was ich zu geben habe, reicht nicht. Ich kann nichts ändern. Ich kann dieses Aufseufzen, Resignieren der Jünger gut verstehen. „Wir haben nichts zu geben. Wir haben nichts als fünf Brote und zwei Fische.“ Das ist nichts angesichts dieser großen Menschenmenge. Das ist nichts angesichts der Not dieser Welt. Absolut richtig.

Und Jesus? Lässt sich nicht auf diese Diskussion ein, ob das etwas bringt – Jesus zählt nicht, wieviel Tropfen auf einem heißen Stein man braucht, bis er nass wird. Jesus sagt stattdessen: Bringt mir, was ihr habt. Bringt fünf Brote und zwei Fische. Was sind meine fünf Brote, meine zwei Fische, die ich in der Tasche habe? Was könnte ich einbringen? Ganz erstaunt, dass Jesus damit etwas anfangen kann. Dass Jesus das gebrauchen kann, um damit das Reich Gottes zu bauen.

Vor einigen Tagen las ich einen kleinen Artikel im Internet. Ein Amerikaner schrieb: „Wie lässt sich dieser Kreislauf aus Gewalt und Gegengewalt durchbrechen? Was können wir dem politischen Irrsinn, den wir erleben, entgegensetzen?“ Das war sein Thema. Und nach einer Beschreibung bzw. Analyse der Situation, in der wir heute leben, gab er sehr praktische kleine Antworten. Antworten, die zu den fünf Broten und zwei Fischen aus Matthäus 13 passen.

Er beschrieb vier kleine Gesten, die er versucht, in seinen Alltag einzubauen:

  • Sag heute ein Wort, einen Satz, der einer ängstlichen Person Mut macht.
  • Halte jemandem die Hand und verbreite Ruhe.
  • Schau heute jemandem, den du nicht kennst, in die Augen und entdecke, dass ihr euch nicht fremd seid.
  • Schenke jemandem ein unerwartetes Lächeln.

Kleine Fische, würden wir sagen. Was soll das bringen?

Vielleicht hat der Autor dieses Artikels Matthäus 13 gelesen. „Bringt mir eure fünf Brote und zwei Fische“, sagt Jesus – blickte auf zum Himmel, dankte, brach die Brote und gab sie seinen Jüngern.

Die vier Gesten sind für den Autor nicht nur kleine verhaltenstherapeutische Angebote, sondern entspringen einer Haltung – nämlich der Dankbarkeit. Dankbarkeit, dass ich in einer Gemeinschaft eingebunden bin und hineingehöre. Dank dafür, dass ich schon Mut und Vertrauen in meinem Leben erfahren habe. Diese Dankbarkeit teile ich durch diese vier kleinen Gesten mit anderen.

Ich sage einen Satz, der Mut macht. Ich halte jemandem die Hand und gebe ihm so das Gefühl: Du bist nicht allein. Ich nehme mir einen buchstäblichen Augenblick lang Zeit für einen Unbekannten. Ich schenke jemandem ein unerwartetes Lächeln.

Jesus traut seinen Jüngern zu, dass sie mit fünf Broten und zwei Fischen Gemeinschaft stiften können und Not lindern. Und damit sind wir wieder bei Paulus und seinen Ermahnungen zum Leben der Gemeinde. Diese Aufzählungen des Paulus machen uns ja schnell müde und geben uns ein Gefühl der Überforderung. Die Liebe sei ohne Falsch. Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Segnet, die euch verfolgen: Wie sollen wir das schaffen?

„Kommt, bringt mir eure fünf Brote und eure zwei Fische.“ Bringt mir eure kleinen Versuche der Freundlichkeit. Bringt euer geschenktes Lächeln. Denkt nicht zu gering von dem Moment, wo ihr euch Zeit für ein Gespräch genommen oder einfach einmal still eine Hand gehalten habt. Seht einander. Freut euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden. Teilt eure kleinen Brote und Fische. Und blickt mit Dankbarkeit darauf, was ihr da tut. Es wird die Welt verändern.

Silke Althaus