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Vor 75 Jahren: Das Ende der Leningrader Hungerblockade am 27. Januar 1944

An zwei Gedenkstätten der ehemaligen Sowjetunion habe ich aus Lautsprechern leise Musik von Robert Schumann gehört. In Stalingrad, jetzt wieder Wolgograd, und in Leningrad, jetzt wieder St. Petersburg. In Leningrad heißt dieser Ort Piskarjew-Friedhof. Dort gibt es nur Massengräber, breite Plateaus, bedeckt von grünem Gras. Jedes der Felder ist mit einer Jahreszahl gekennzeichnet – 1941/1942/1943/1944, Erinnerung an 900 Tage Hungerblockade. Es ist immer still auf dem Friedhof, die Musik von Schumann erklingt aus Lautsprechern in den Bäumen. Die Menschen die dort begraben sind, sind keine Kriegstoten, sondern Opfer eines Verbrechens.

Hitler hatte beschlossen, die Stadt nicht einzunehmen, sondern auszuhungern, und die Generäle folgten ihm. Leningrad, im Westen die Ostsee, im Osten der Ladoga-See, war umzingelt von finnischen und deutschen Truppen. Der teuflische Plan der Aushungerung wurde konsequent verfolgt. Die Lagerhäuser für Mehl und Zucker wurden mit Brandbomben zerstört. Der geschmolzene Zucker lief ins Erdreich, und die zuckrige Erde wurde gierig in die Häuser getragen. Die sogenannte „Straße des Lebens“ über den Ladoga-See, im Sommer per Boot, im Winter über das Eis, konnte nicht verhindern, dass Tausende verhungerten. Im Dezember 1941 starben in den ersten 10 Tagen mehr als 9 Tausend, in den nächsten 10 Tagen mehr als 18 Tausend, im Februar 1942 starben an einem Tag im Durchschnitt 3.200-3.400 Menschen. Viele Forscher glauben heute, dass die Zahl der Verhungerten eine Million überschreitet.

Der Hunger war schrecklich. Gegessen wurde alles, was organischen Ursprungs war, wie Klebstoff, Schmierfett, Tapetenkleister. Es gab in der ganzen Stadt weder Katzen noch Hunde noch Ratten und Krähen. Kinderschlitten wurden zum einzigen Transportmittel. Mit ihnen wurden Wasser, Brot und Leichen transportiert. Menschen brachen auf der Straße zusammen und blieben einfach liegen. In den eiskalten Wohnungen lebten die Menschen zusammen mit ihren toten Angehörigen, die nicht beerdigt wurden, weil der Transport zum Friedhof für die entkräfteten Menschen zu beschwerlich war.

Ein erschütterndes Zeugnis ist das Tagebuch von Tanja Sawitschewa. Darin notierte sie die Daten, an denen ihre Familienmitglieder starben: ihre Schwester, ihre Großmutter, ihr Bruder, zwei Onkel, dann ihre Mutter.

Es sind Gedichte aus dem eingeschlossenen Leningrad erhalten, vor allem von Olga Bergholz. Und Kinderzeichungen. Die Eltern lebten nicht mehr, die Kleinen wurden gefunden und in Kindergärten betreut. „Ich will nicht malen, ich will schlafen“, sagten sie. Aber Malen, Schreiben, Musizieren – das war ein Kampf gegen die Apathie. Auch in vielen Familien hieß es: Wenn man nichts zu essen hat, braucht man geistige Nahrung zum Überleben. Ein Buchladen der Schriftsteller war die ganze Zeit über geöffnet, und verkaufte Bücher. Die wurden zuhause gelesen mit der winzig kleinen Blockade-Petroleumlampe. Sogar ein Blockade-Theater arbeitete die ganze Zeit hindurch in einer Notunterkunft.

Ich habe St. Petersburg mehrmals besucht und eine emotionale Beziehung zu dieser Stadt. Beim ersten Besuch, 1967, war die Erinnerung an die Hungerblockade noch sehr nah. Aber erst später wurden viele der schrecklichen Einzelheiten bekannt.

Der große Komponist Dmitri Schostakowitsch weilte in der Stadt. Dort entstanden die ersten beiden Sätze seiner siebten, sogenannten Leningrader Symphonie. Waffenstarrend klirrte die Front in geringer Entfernung. Sie stand den fünfzehn übriggebliebenen Sinfonikern und der Handvoll zusammengesuchter Musiker entgegen, und viele hunderttausend Bürger Leningrads lauschten inmitten des Infernos den Übertragungslautsprechern überall in der Stadt.

Dieter Schermeier

3 Gedanken zu „Vor 75 Jahren: Das Ende der Leningrader Hungerblockade am 27. Januar 1944

  1. Vielen, vielen Dank, lieber Dieter! Zum Kommentar nur zweierlei: Björn Höcke:
    „Schandmal“ und Alexander Gauland: „Vogelschiß“!!

  2. Ein ergreifendes, tief schmerzendes Zeugnis aus einer Zeit, in der ich noch Kind war und keiner sprach mit uns über diese Greultaten, keiner wollte etwas davon gewusst haben und ließ uns junge Menschen allein mit unseren Fragen. Immer noch ruht ein tiefer Schmerz in mir, die ich Flüchtlingskind war, all das Leiden um mich nicht verstand, fragte, suchte nach Antworten, aber fand niemanden, der sich direkt oder indirekt dazu bekannte. Vom Leiden und Sterben in Leningrad höre ich heute zum ersten Mal und wieder keimen Schmerz und Tränen in mir auf! Wieviel abgrundtiefes Leid. Müssen sich Menschen noch antun, um endlich zu begreifen und lernen?

    • Herzlichen Dank für Ihren Kommentar! Leider gibt es immer wieder, heute sogar vermehrt, Menschen, die versuchen, dem Zweiten Weltkrieg oder Kriegen allgemein etwas „Positives“, „Sinnvolles“ abzugewinnen. Und leider können wir auch nicht erwarten, dass sich das im Laufe der Jahre ändert, zumal wenn die Erinnerung an all das Schreckliche langsam verblasst. Es ist immer noch zu wenig erforscht, warum so viele Menschen mit- oder sogar vorneweglaufen, wenn Staaten das Ruder herumwerfen und zum Angriff blasen. Deshalb bleibt es eine dauerhafte Aufgabe, Zeugnis von den damaligen Geschehnissen abzulegen und offen darüber zu sprechen – gerade auch für uns, die Generation, die nur den Frieden erlebt hat. Viele Grüße, Stefan Koppelmann für die Redaktion von HIMMELrauschen.

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