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Von großen Würfen und den Mühen des Alltags

1. Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ So lautet Artikel 1 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“. Am 10. Dezember 1948 wurde sie von den Vereinten Nationen beschlossen. Das war ein riesiger Schritt auf dem Weg zu einem Leben in Würde für alle Bewohnerinnen und Bewohner unserer Erde. Ihre Verabschiedung durch die Generalversammlung war eine Reaktion auf die systematisch organisierten Gräueltaten, die durch den Nationalsozialismus von Deutschland aus in Europa und an viel zu vielen anderen Orten in der Welt geschahen und zurecht als Verbrechen gegen die Menschheit gebrandmarkt wurden.

Heute, 70 Jahre später, sind die Menschenrechte trotz aller erreichten Fortschritte noch immer nicht überall auf der Welt selbstverständlich. Sie sind weiterhin eine Errungenschaft, für die es sich einzusetzen gilt und lohnt. Wo die Menschenrechte nicht respektiert werden, erleben Menschen Willkür, Unterdrückung und Gewalt. Und auch wo die Menschenrechte in Geltung sind, müssen sie verteidigt werden. Das haben gerade die letzten Jahre wieder gezeigt, auch in Europa, auch in Deutschland.

Die Menschenrechte sind grundlegende Rechte, die von allen Staaten zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen sind. Gleichzeitig stehen sie für normative Werte, die überall auf der Welt zu achten sind. Sie sollen garantieren, dass Freiheit, Gleichheit und Teilhabe für jeden gelten:

Die Menschenrechte schützen die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger gegenüber unrechtmäßigen Eingriffen insbesondere der staatlichen Gewalt. Deshalb gehören Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit, Schutz und Gleichbehandlung vor Gericht und der Schutz des Eigentums zu ihrem klassischen Grundbestand. Sie stellen aber ebenso die Gleichheit aller Menschen fest. Ihnen wohnt dadurch eine gewisse revolutionäre Tendenz inne gegenüber allen Ungleichheiten und Diskriminierungen. Und sie beharren auf der wirksamen Teilhabe aller Betroffenen an den politischen Entscheidungen wie an den gesellschaftlichen Gütern.

2. Die Menschenrechte sind bereits 1948 säkular formuliert worden. Damals gab es Diskussionen, ob ein religiöses Fundament mitgeliefert werden sollte. Es ist wichtig und richtig, dass dies nicht geschah. Denn so werden die Menschenrechte universell verstanden, unabhängig vom religiösen und kulturellen Kontext, der im jeweiligen Land vorherrscht. Das lässt für Christen wie für andere Gläubige Raum für ihre theologische Würdigung, allerdings ohne dies rechtlich festzuschreiben.

Für Christen ist die unveräußerliche Würde des Menschen in der Gottesbeziehung gegründet. Als Gottes Ebenbild und Gegenüber ist der Mensch ins Leben gerufen und mit Würde und Rechten ausgestattet. Wer die Würde des Menschen angreift, greift Gott selbst an. Deshalb treten die Kirche und ihre Diakonie für die Einhaltung und die Durchsetzung der Menschenrechte ein. Aktuell geschieht dies etwa mit der neuen Kampagne #freiundgleich. Als besonders aktuelle Herausforderungen in Europa greift der Rat des EKD in seinem Wort zum Tag der Menschenrechte 2018 heraus:

— das uneingeschränkte Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit;
— die Gewährleistung der Religionsfreiheit, mit der die Verantwortung verbunden ist, der Diskriminierung von religiösen Gemeinschaften und Gruppen entgegenzuwirken;
— und die Verteidigung des Rechts auf Asyl als Menschenrecht und der individuellen Rechte von Geflüchteten.

3. Was jetzt nach einem breiten und schon lange bestehenden Konsens klingt, hat allerdings eine Vorgeschichte, die nicht zu den erfreulichen Kapiteln der Kirchengeschichte zählt. Es hat bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gedauert, bis die Kirche zu einem kompromisslosen Einsatz für die Menschenrechte gekommen ist und sie zu ihrer Aufgabe gemacht hat. Zuvor wurde die Entwicklung hin zu individuellen Menschenrechten mehrheitlich abgelehnt. Obwohl es doch eigentlich genug gedankliche Vorläufer in der eigenen Tradition gibt, galten freiheitliche Grundrechte für jeden als zu individualistisch, zu rationalistisch, als Ausdruck eines anthropologischen Denkens, als Elemente einer emanzipativen und zugleich antikirchlichen Politik.

Manchmal habe ich das Gefühl, das gerade im innerkirchlichen Diskurs über die Zukunft der Kirche noch immer Anklänge eines solchen Denkens verbreitet sind. Dann wird die gewünschte und ersehnte Gemeinschaft höher gehalten, ja fast ausgespielt gegen den sehr individuellen Glauben der einzelnen Christen in ihrem jeweiligen Alltag. Die kirchliche Struktur scheint dann der entscheidende Maßstab zu sein an dem die Entwicklung gemessen wird und der die Sorgen bestimmt.

Doch sollte nicht Glauben und Handeln der Christen und ihre Förderung im Mittelpunkt stehen? Das Priestertum aller Gläubigen, der Ansatz beim mündigen Christenmenschen ist doch ein urprotestantisches Anliegen! Das relativiert unseren Umgang mit der Institution Kirche. Ich gebe gerne zu, von den Mitgliedern, von den Mehr oder weniger Glaubenden, von den Suchenden, ja von allen im Stadtteil her zu denken, fällt nicht immer leicht. Das bedarf der dauernden Ein-Übung.

Die katholische Kirche macht uns die Schwierigkeiten eines solchen Denkens momentan beim Umgang mit sexuellem Missbrauch vor. Immer weniger Menschen verstehen, wenn der Schutz der „heiligen“ Kirche vor der Verletzung der Rechte Betroffener geht. Was muss sich an den Strukturen ändern? Wie kann die individuelle Selbstbestimmung in allen Lebenslagen und – bereichen gewährleistet werden?

4. Eines ist klar: Die Umsetzung der Menschenrechte braucht immer einen langen Atem, oft ein tiefgreifendes Umdenken, meistens mehr Zeit als gedacht und kommt ohne genügend Ressourcen, die zur Verfügung gestellt werden müssen, nicht aus. Rechtliche internationale Rahmensetzung, innerstaatliche Umsetzung, die breite Beteiligung von Betroffenen, aber auch und gerade der Einsatz von Kirche und Diakonie müssen dabei heute zusammenwirken, um im Alltag die Menschenrechte für immer mehr Menschen Realität werden zu lassen.

Beispielhaft lässt sich das am “Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen”, der sogenannten Behindertenrechtskonvention durchbuchstabieren. Sie ist ein Menschenrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, das am 13. Dezember 2006 von der Generalversammlung beschlossen wurde. Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert Inklusion, die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben, als Menschenrecht.

Zu den Staaten, die als erste unterzeichnet haben, zählt Deutschland. Mit der Verkündung des Gesetzes zur Ratifikation des “Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen” konnte die Behindertenrechtskonvention am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft treten. Im Dezember 2016 ist dann nach langem Ringen das „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung“, kurz: BTHG, verabschiedet worden. Damit hat die große Koalition in der letzten Legislaturperiode ein gesetzliches Großprojekt auf den Weg gebracht, das mit Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte tief-greifende Veränderungen der Rahmenbedingungen im Sozialbereich nach sich zieht. Beginnend 2017, tritt es in vier Reformstufen bis 2023 in Kraft.

Das neue Gesetz leitet einen Systemwechsel ein: Während bisher die Fürsorge nach den Grundsätzen der Sozialhilfe im Vordergrund stand, zielt das BTHG auf individuelle Autonomie und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Diese Grundtendenz ist nur zu begrüßen und soll die Situation von über zehn Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland verbessern. Zugleich verändert es die Rahmenbedingungen der betroffenen Dienste und Einrichtungen. Die Diakonie Deutschland hat am Gesetzgebungsprozess mitgewirkt und konnte einige wichtige Veränderungen erreichen.

Die stufenweise Umsetzung des BTHG fordert alle Beteiligten und bringt viele Unsicherheiten mit sich. Beispiel Diakoniewerk Essen: Das Johannes-Böttcher-Haus nimmt als eine von acht Einrichtungen an einem landesweiten Modellprojekt zur Vorbereitung der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes teil. Neben der Behindertenhilfe sind ebenso Arbeitsbereiche des Diakoniewerks in der Gefährdetenhilfe oder der Jugendhilfe mit betroffen.

Uns bei der Weiterentwicklung hin zu noch mehr Individualität als Diakonie zu beteiligen, steht uns gut zu Gesicht, entspricht ganz den eigenen Leitbildern etwa im Diakoniewerk und hat in Essen bereits eine lange Tradition. Denken Sie nur die die Pionierarbeit der Aktion Menschenstadt oder an Fachtagungen mit Menschen mit Handicaps. In diesem Jahr wurde sie schon das 7. Mal in Kooperation von Diakoniewerk, Aktion Menschenstadt und Integrationsmodell organisiert und gibt Menschen mit Behinderungen ihre eigene Stimme.

Doch die Mühen der Ebene bei der Umsetzung des BTHG sind unübersehbar. Noch bleibt offen, ob bzw. wie die konkrete Gestaltung tatsächlich zu dem Fortschritt an Selbstbestimmung führt, die das Ziel des ganzen Unternehmens ist und gleichzeitig die dafür unterstützenden Dienste mit den nötigen Ressourcen ausstattet.

5. Der 70. Jahrestag der Deklaration der Menschenrechte nimmt uns neu in die Pflicht. Der Vorschlag für eine „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“, der 1997 von führenden Staatsmännern und -frauen wie Helmut Schmidt als Appell an die Weltöffentlichkeit gerichtet wurde, sagt es so: „Alle Menschen haben die Pflicht, ihre Fähigkeiten durch Fleiß und Anstrengung zu entwickeln. Sie sollen gleichen Zugang zu Ausbildung und sinnvoller Arbeit haben. Jeder soll den Bedürftigen, Benachteiligten, Behinderten und den Opfern von Diskriminierung Unterstützung zukommen lassen“ (Artikel 10). Tragen wir jede und jeder das uns Mögliche dazu bei!

Andreas Müller

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