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Über das Verschwinden der Barmherzigkeit

Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. (Lukas 6,36)

Vor einiger Zeit ist ein sogenanntes „Lexikon der bedrohten Wörter“ erschienen. Denn es gibt nicht nur bedrohte Pflanzen und Tiere, sondern auch Wörter, die vom Aussterben bedroht sind. Wörter wie „Kleinod“ oder „hold“. Beide hören Sie im Alltag nicht mehr. Ebenso wenig wie das Wort „barmherzig“.

Wenn Konfirmanden beim Vorlesen aus der Bibel auf dieses Wort stoßen, dann stocken sie und betonen es mit ziemlicher Sicherheit auf der ersten Silbe. Sie sagen: „barm-herzig“. Daran merke ich, dass sie das Wort noch nie gelesen oder gehört, geschweige denn selbst gebraucht haben.

Mich beunruhigt das. Denn man sagt nicht zu Unrecht: Wenn ein Wort verschwunden ist, dann ist auch die Sache selbst verschwunden. Hier also: Wenn das Wort ausstirbt, dann stirbt auch diese Eigenschaft oder Tugend aus. Mir ist auch kein ähnlicher Begriff eingefallen, der stattdessen heute im Umlauf wäre, der für dieselbe Sache stehen würde. Umso wichtiger und dringlicher ist es, dass wir uns durch die Bibel sagen lassen, was barmherzig zu sein bedeutet.

Das anschauliche Bild in der Bibel für die Barmherzigkeit Gottes ist der Regenbogen, der sich hoch oben in den Wolken zeigt. Denn manchmal, da wallt in Gott der Zorn auf über die Menschen. Der Himmel zieht sich zu, dunkle Wolken ballen sich über der Erde zusammen und die Menschen bekommen Angst. Wird gleich ein Gewitter losbrechen mit Wolkenbruch und einer neuen Sintflut? Wird Gott wieder die Erde vernichten und alles Leben darauf?

Da erscheint dann, wenn es noch regnet und immer noch Wolken am Himmel sind, still und erhaben und in seiner ganzen Farbenpracht, ein Regenbogen – und alle atmen auf. Gott erinnert sich an sein Versprechen: Ich will die Erde nicht mehr verfluchen um der Menschen willen.

Wenn wir den Regenbogen ansehen, dann wissen wir, was Gottes Barmherzigkeit bedeutet: Es ist seine nicht zu erschöpfende Geduld mit uns. Die Bereitschaft, auch wenn es völlig aussichtslos erscheint, uns noch einmal eine Chance zu geben. Und so wie Gott barmherzig ist, so sollen auch wir barmherzig sein.

Reinhard Laser