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Zeche Zollverein, die Evangelische Kirche und die Reformation

1. Ich wohne noch nicht so lange in Essen. Wenn Besuch von auswärts kommt, wird Essen und seine Umgebung noch immer von der Familie mit erkundet. Dazu gehört natürlich die Zeche Zollverein als Architektur- und Industriedenkmal, seit 2001 offizielles Welterbe der UNESCO. Beim letzten Besuch war nicht nur Geschichte, Größe und Ausmaß der Schachtanlagen, der Kokerei und des gesamten Geländes erneut beeindruckend. Der Wandel und die immer größer werdende Rasanz der Veränderung sind mir erst richtig bewusst geworden. Stichworte: Gründung der bergrechtlichen Gewerkschaft Zeche Zollverein 1847, 1920er Jahre Phönix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb, Übernahme der Phönix AG durch die Vereinigte Stahlwerke AG 1926 und Zuordnung zur Gelsenkirchener Bergwerks-AG. Übergang in die Rheinelbe Bergbau AG als Nachfolgegesellschaft, 1968 Überführung in die Bergbau AG Essen der Ruhrkohle AG.

Nach der Stilllegung 1986 ging und geht es genauso weiter: Das Land Nordrhein-Westfalen kaufte der Ruhrkohle AG das Gelände von Schacht XII ab, aus der Baugesellschaft Bauhütte Zeche Zollverein wurde inzwischen seit 2008 die Stiftung Zollverein. Die Entwicklung des Geländes und seines unwahrscheinlichen Potentials schreitet stetig voran.

Bei so viel Veränderung kann einem schwindelig werden. Die Umstrukturierung des Ruhrgebiets weg von Bergbau und Montanindustrie hin zu einer Region mit einer neuen, breit gefächerten Struktur der Wirtschaft ist lange nicht abgeschlossen und in vollem Gang. Sie ist verbunden mit vielen Schmerzen, aber auch mit Chancen. Die Zeche Zollverein ist selber ein beredtes Beispiel dafür.

2. Beim Blick auf die Kirche könnte man denken: Gut, dass wenigstens da Kontinuität herrscht. Gemeinde bleibt Gemeinde. Das ist in dem Sinne richtig, dass das Evangelium in Wort und Tat von Kirche und Diakonie verkündigt wird. Bergbauzechen und Kokereien, wenn es sie zum Teil auch noch als Gebäude gibt, erfüllen hingegen ihre ursprünglichen Zwecke in Essen heute nicht mehr.

Doch Achtung. Natürlich gibt es mit Werden und der Altstadt Gemeinden, die seit den Anfängen der Reformation als evangelische Gemeinden existieren. Es gibt aber auch Gemeinden, die erst als Bergarbeitergemeinden entstanden, die geteilt wurden, die wieder fusioniert haben. Denken Sie nur an den Kirchenkreis Essen. 1956 wurde er wegen des enormen Wachstums aufgeteilt, 2008 wieder vereint. Und erst seit 2016 gehört Kettwig auch evangelisch zum Kirchenkreis Essen dazu.

Doch solche Änderungen zeigen nur die Oberfläche. Unser Verständnis von Gemeinde und Kirche hat sich viel mehr gewandelt, als uns da oft bewusst ist. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, also als es mit der Zeche Zollverein losging, begann in unseren Landen eine neue Organisation weg von Großgemeinden mit 50.000 Seelen hin zu kleineren Gemeinden, noch einmal unterteilt in Bezirke. Die Richtzahl eines Seelsorgebezirkes sollte bei 5000 Personen liegen, und den Rahmen für noch kleinere „Seelsorgegemeinden“ bilden, in dem jeder auf irgendeine Weise erfasst, gekannt, besucht und versorgt wurde, mit Hilfe von Ehramtlichen wie wir heute sagen würden.

Erst um 1900 herum adaptierten viele Kirchengemeinden den Vereinsgedanken. Er war durch die Diakonie modern geworden. Nach und nach etablierten sich in loser Anbindung an die Kirchengemeinde oder unter ihrem Dach kirchliche Vereine für Männer- und Frauenarbeit, für Jugendpflege und anderes. Auf diese Art entstand ein gemeindenahes oder auch gemeindeeigenes Vereinsleben, das „Gemeindeleben“. Diese neue Gemeinschaftsorientierung der Kirchengemeinden fand ihren sichtbarsten Ausdruck in der Institution des „Gemeindehauses“. Das Gemeindehaus war dem Vorbild des Vereinshauses der Inneren Mission abgeschaut. Fortan war das typische Bild einer evangelischen Kirchengemeinde nicht mehr allein durch den Kirchturm bestimmt, sondern auch durch ein zweites Gebäude, das Gemeindehaus.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Kirche auf die zunehmende Differenzierung als einem wesentlichen Kennzeichen der modernen Gesellschaft reagiert. Das soziale Leben hat sich in eine Vielzahl von Lebensbereichen aufgegliedert und aufgeteilt, die untereinander in nur noch schwer erkennbaren Beziehungen stehen. Die Kirche begann, einzelne der verselbständigten Lebensbereiche als Sonderaufgaben für die pastorale Tätigkeit zu begreifen und zu organisieren. Auf diese Weise sind die heutigen funktionalen Dienste entstanden. Denken Sie etwas an die Seelsorge per Telefon oder Seelsorge in Krankenhäusern oder bei der Polizei.

Ein letztes Beispiel für grundlegende Veränderungen. Mit dem Experiment der „Ladenkirche“ in Berlin-Spandau wurde in den 1960er Jahren ein weithin wahrgenommenes Zeichen für modernen Gemeindeaufbau gesetzt. Nach amerikanischen Vorbildern wurde in einem ehemaligen Bäckerladen das gottesdienstliche Zentrum der neuen Gemeinde errichtet. Der Ernstfall des Glaubens ereignet sich draußen, im Leben der Nachbarschaft und im Geschick der Stadt. Der Gemeindekirchenrat orientierte sich am Gemeinwesen, sprich Sozialraum, er brachte sich in einer Bürgerinitiative ein. Die Gemeinde betrieb einen »Dritte-Welt-Laden« und versuchte, bewusst im ökumenischen Horizont zu leben.

Ich kann als Diakoniepfarrer natürlich als Beispiel für Veränderungen auch auf das Diakoniewerk Essen schauen. 1952 wurde es als „Evangelisches Jugendheimstättenwerk“ gegründet, die erste Zielgruppe waren Jungbergleute. Als in den 1960er Jahre neue Einrichtungen, etwa für Gehörlose, in der Altenpflege, für Behinderte oder Nichtsesshafte dazukamen wurde es das „Ev. Heimstättenwerk“. Mit der Eingliederung der ambulanten Dienste des Diakonischen Werkes des Kirchenkreises wurde daraus 1998 der „Diakoniewerk Essen e.V.“. 2008 wurden Tochtergesellschaften als gGmbHs ausgegliedert, 2011 als letzte eigenständige Gesellschaft die Kita-Gesellschaft ins Leben gerufen.

3. Warum immer diese Veränderungen, auch wenn sie nicht die Welt umstürzen? Kann nicht alles immer so bleiben wie es ist? Im Moment ist es ja in, zu meinen: Sollen die da oben doch für uns sorgen und machen! Gerade in protestantische Gene ist da von Anfang an etwas anderes eingeschrieben worden. Auch im neuen Leitbild des Diakoniewerks lässt sich das nachlesen. Einer der 12 Leitsätze lautet: „Wir sind offen für Dialog und Veränderung und fördern Partizipation.“

Wo kommt das her? Mit dem 31. Oktober wurde das 500. Reformationsjubiläum eingeläutet. Der Reformationstag erinnert jedes Jahr die Kirche und ihre Diakonie daran, dass Veränderungen um der Sache willen zu ihren Grundüberzeugungen zählt. Klassisch ist das auf Latein zum Sprichwort geworden: „Ecclesia semper reformanda“. Die reformatorische Kirche ist eine immer neu zu reformierende.

Eingängiger sind vielleicht Worte Martin Luthers: „Die Kirche braucht eine Reformation. Diese Reformation ist aber nicht die Angelegenheit nur des Papstes noch der Kardinäle. Es ist eine Angelegenheit der ganzen Christenheit, oder noch besser, Gottes allein.“ Damit wird die Verantwortung jedes Einzelnen herausgestellt, jeweils an seinem Platz. Doch für die reformatorische Bewegung damals – und das ist bis heute nicht anders – war klar, dass der Erfolg allen Tuns nicht in der eigenen Hand liegt – und doch das eigene Handeln zählt.

4. Es bleibt also spannend. Wir werden sehen, wohin wir geführt werden bzw. wie wir Kirche und Diakonie in Essen weiter gestalten. Die Kreissynode hat erst im November eine neue Konzeption beschlossen, der Prozess zu deren Umsetzung hat gerade erst begonnen. Viele Gemeinden befinden sich in Umstrukturierungsprozessen. Das Diakoniewerk hat mit dem aktualisierten Leitbild Auftrag und Ausrichtung der Arbeit kurz und bündig beschrieben, doch auch hier gilt es, die guten Worte mit der gelebten Praxis zu vergleichen und ggf. zu verändern. Wie gesagt, es bleibt spannend. Bleiben wir vor allem offen für das Wirken von Gottes Geist in einer „Ecclesia semper reformanda“.

Selbst die Zeche Zollverein wird im Jahr 2017 ein wenig reformatorisch geprägt sein. Im April wurde die große Ausstellung „Der geteilte Himmel. Reformation und religiöse Vielfalt an Rhein und Ruhr“ eröffnet. Im Juni wird dort das Kindermusiktheaterstück „Tinte, Tod und Teufel“ uraufgeführt. Im September ist unter dem Motto „Taste of Religion“ ein interreligiöses Fest geplant und zur Eröffnung des Zechenfestes 2017 findet ein Ökumenischer Open Air-Fahrradgottesdienst statt. Das ist dann einer von „95 Gottesdiensten an ungewöhnlichen Orten“ der Evangelischen Kirche im Rheinland. Wer hätte das 1847 gedacht?

Andreas Müller