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9. November 1938 – 1989 – 2015

„Da habe ich nichts mit zu tun! Das geht mich nichts an! Da sollen sich andere drum kümmern! Wer nichts getan hat, der hat auch nichts zu befürchten. Ich habe genug mit mir selbst zu tun!“ So hat es damals angefangen. So fängt es immer an. Und genau darum müssen wir uns erinnern – an den 9. November 1938, an die Reichspogromnacht.

Vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen. Geschäfte und Wohnungen von jüdischen Mitbürgern wurden geplündert und zerstört, Menschen jüdischen Glaubens wurden misshandelt, verhaftet, deportiert, ermordet. Dieses Pogrom war das öffentliche Fanal für das, was dann folgen sollte: der Völkermord am europäischen Judentum. Wir es den Opfern schuldig, uns zu erinnern – auch nach so vielen Jahren noch. Wir sind es uns selbst und den nachfolgenden Generationen schuldig uns zu erinnern, und zwar solange, bis wir all unsere Kraft, all unser Tun und Denken für die Bewahrung des Lebens, für den Frieden und die Gerechtigkeit einsetzen.

Denn nur im Erinnern werden wir begreifen, wie dünn die Haut ist, die wir Kultur nennen und die es uns ermöglicht, miteinander zu leben, ohne übereinander herzufallen. Die Erinnerung mahnt uns, wie wenig es bedarf, dass Menschen ihre Überzeugungen und Werte, ihre Kultur und ihren Glauben verraten und aus freundlichen Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunden und Bekannten die einen zu Tätern und die anderen zu Opfern werden und wieder andere zu Zuschauern, die ihre Hände in Unschuld waschen. Gerade auch die Kirche hat hier – bis auf ganz wenige Ausnahmen – ganz und gar versagt. Hier haben wir uns als Christen zu diesem Versagen zu bekennen und durch das klare Eintreten für die Menschenrechte und die Menschenwürde einzutreten. Nur wer sich erinnert, kann eine menschenwürdige Zukunft für alle gestalten.

Schön ist es, dass wir in unserer Geschichte noch einen anderen 9. November erinnern können: den Fall der Mauer im Jahre 1989. Ein gutes, ein wunderbares Datum. „Wir hatten alles geplant. Wir waren auf alles vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ So formulierte es Horst Sindermann, Präsident der Volkskammer und Mitglied im SED-Zentralkomitee. Was für eine Kraft, was für Mut steckt in Menschen, die Gott in ihrer Mitte wissen. „Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen“, hieß es damals in Bezug auf die Friedensbewegung und: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Die Visionäre in der DDR von 1989 und den Jahren davor gingen aber nicht zum Arzt, sondern in die Kirche und dann auf die Straßen. Die Kerzen, die die Menschen trugen wurden an den Altarkerzen entzündet.

Was 1982 mit dem ersten Friedensgebet in der Nikolaikirche in Leipzig gleich einem einzelnen Senfkorn begann, brachte sieben Jahre später reiche Frucht, die so niemand erwarten konnte, denn Glaube und Gewaltlosigkeit sind noch lange keine Garantie für ein Gelingen. Doch ich bin davon überzeugt: in ihnen allein steckt die einzig wirkliche Möglichkeit der Veränderung. So haben die Seligpreisungen und das Wort des Propheten Micha „Schwerter zu Pflugscharen“ Menschen in Bewegung gesetzt und die Welt verändert. Sich daran zu erinnern, sich an diesen Tag zu erinnern gibt Hoffnung und Kraft und ermutigt, für Menschen und ihre Rechte und ihre Würde einzutreten.

„Ja, da habe ich was mit zu tun! Das geht mich sehr wohl etwas an! Selbstverständlich ist das auch meine Sache! Da werde ich mich drum kümmern!“ – 9. November 2015. Das sollte uns dieser Tag deutlich vor Augen führen: Wir sind verantwortlich, wir können, wir müssen etwas tun. Den Anfängen wehren, uns gegen nazistisches Gedankengut stellen und Position beziehen. Und: Mauern einreißen, Mauern überwinden, die heute bei uns und überall auf der Welt errichtet sind und errichtet werden: Mauern zwischen Einheimischen und Flüchtlingen, Stacheldraht und Mauern an den Grenzen Europas, Mauern in unseren Köpfen.

Bei allen Sorgen, Ängsten und Befürchtungen, die viele Menschen in Bezug auf die Höhe der Flüchtlingszahlen in unserem Land haben: Wir sind vor eine ungeheure Herausforderung gestellt, die wir aber gemeinsam bewältigen können und werden. Dazu ist es aber notwendig, dass wir keinen Millimeter weichen gegenüber denen, die mit ihrem Hass gegen Flüchtlinge, ihren Parolen, Aufmärschen und Brandanschlägen Stimmung machen, Ängste schüren und damit der Gewalt den Weg ebnen. Darum ein großer Dank all denjenigen, die in ihrem unermüdlichen Einsatz – oft bis an die Grenze ihrer Kräfte – sich für die Flüchtlinge einsetzen und damit Wege öffnen für ein miteinander.

Der 9. November: Mahnung (1938) und Ermutigung (1989). Und zugleich ein Tag, der erinnert werden muss, wenn wir Zukunft gestalten wollen.

Christoph Ecker